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Kritik der Wertphilosophie: 

Die Begründung der Wertphilosophie 1

 

Inhalt

2.            Die Begründung der Wertphilosophie

2.1.         Induktive Metaphysik Lotzes

2.1.1.     Ontologie

2.1.2.     Teleologischer Idealismus

2.1.3.     Die Substanzialität der Seele

2.2.   „Geltung“

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  2.         Die Begründung der Wertphilosophie

 2.1.             Induktive Metaphysik Lotzes

 Lotze hat sich ursprünglich in Medizin habilitiert, bevor er zur Philosophie wechselte. Sein wichtigstes naturwissenschaftliches Werk war nach J. Hirschberger eine „Medizinische Psychologie oder Physiologie der Seele“ (1852). Lotze hatte, wie Hirschberger schreibt, „in einer metaphysikfeindlichen Zeit den Mut zur Metaphysik und pflegte sie, ihren Gegnern den Wind aus den Segeln nehmend, gerade unter Verwertung naturwissenschaftlicher Forschungsergebnisse.“ (Hirschberger II, S. 548 f.)  Dabei argumentiert Lotze aber nicht wie Kant, der von bereits bewährten Wissenschaften ausgeht und nach den geistigen Bedingungen ihrer Möglichkeit fragt, also das macht, was Kant transzendental nennt, sondern Lotze „holt in einem gesunden Eklektizismus das ewig Wahre, wo immer es sich findet“, so falsch lobend Hirschberger (II, S. 549). In den üblichen philosophischen Abbreviaturen ausgedrückt verbindet Lotze mehr oder weniger assoziativ seine induktive Metaphysik mit einem philosophischen Realismus, teleologischen Idealismus, dynamischen Monismus, erkenntnistheoretischen Skeptizismus und einer reaktionären dogmatischen Theologie. (Vgl. Metaphysik S. 164 ff.)

       

Hermann Lotze   (1817 – 1881 )

 

2.1.1.  Ontologie

 Ontologie ist nach Lotze, die philosophische Tradition aufgreifend, die „Lehre vom Sein und Zusammenhange alles Wirklichen“ (Metaphysik, S. 24). Ihr Gegenstand ist nicht nur die erfahrbare Wirklichkeit, sondern wesentlich das, was dieser zu Grunde liegt. Sie hat es mit ewig Bestehenden und seinen Beziehungen zu tun. Sie will den allgemeinen Zusammenhang alles Wirklichen überhaupt erkennen. Eine empirisch verkürzte Auffassung von Wirklichem macht ontologische Annahmen, die sich nicht aus dieser empirischen „Weltansicht“ ergeben können. Dennoch ist sinnliche Erfahrung auch Voraussetzung der Ontologie. „Die Geschichte der menschlichen Weltansichten überzeugt uns von der gleich großen Lebhaftigkeit und Selbstverständlichkeit, mit welcher diese verschiedenen Ansichten sich gelten machten; die Neigung der Gegenwart aber geht dahin, den Besitz angeborener Erkenntniß zu verneinen, den Forderungen des Gemüthes jede Berechtigung zur Mitbestimmung der Wahrheit zu versagen, in der Erfahrung allein die Quelle des sicheren Wissens zu suchen, welches wir über den Zusammenhang der Dinge erwerben möchten.“ (Metaphysik, S. 4) 

 Jede Naturwissenschaft, die Gesetze formuliert, ist nicht nur spekulativ, wenn sie Wirkungen vorhersagt, sondern sie gründet auch in einem Ansichsein der Natur oder des Seins unabhängig vom Denken des Menschen. Sie unterstellt stillschweigend die Annahme, „dieselbe Ordnung, welche die Vergangenheit des Weltlaufs beherrscht, werde auch für die Gestaltung seiner Zukunft maßgeblich sein. Diese eine Voraussetzung mithin, die eines allgemeinen inneren Zusammenhanges aller Wirklichkeit überhaupt, der es erst möglich macht, aus der Gestalt eines ihrer Abschnitte auf die der übrigen zu schließen, liegt jedem Versuche, selbst, zu Grunde; wer sie bezweifelt, verliert nicht nur die Aussicht, Zukünftiges mit Gewissheit berechnen zu können, sondern beraubt sich zugleich des einzigen Grundes zu der bescheidenen Hoffnung, unter bestimmten Umständen den Eintritt eines Ereignisses für wahrscheinlicher halten zu dürfen, als den eines andern.“ (Metaphysik, S. 5) 

 Lotze nennt deshalb seine Ontologie, die von Erfahrungen ausgeht, um daraus das Ansichseiende zu erklären, auch induktive Metaphysik. Er kann dem Naturwissenschaften ihre versteckten  Prämissen aufzeigen. „Fragt man daher (...) nach den (...) Grundsätzen (...), welche unausgesprochen fortwährend durch die That bekräftigt werden, so darf man wohl als die herrschende Meinung der Naturwissenschaften  das Zugeständnis ansehen, die Gewißheit eines gesetzlichen Zusammenhanges im Laufe der Dinge stehe vor aller Erfahrung fest; pflegen doch eben grade diese Wissenschaften jenen Zusammenhange unter der bestimmten Form eines allgemein-gesetzlichen mit größerer Ausschließlichkeit für selbstverständlich auszugeben, als es ohne mancherlei Bedenken von der Philosophie zugestanden werden könnte.“ (Metaphysik, S. 8)  Alle Erkenntnisse sind uns nur in Form von Begriffen, Urteilen und Schlüssen gegeben. Das Sein unabhängig von unserem Bewusstsein, unabhängig von diesen logischen Formen wäre uns, wenn überhaupt, nur in diesen Denkformen gegeben. Kant hat deshalb die Ontologie als wissenschaftliche Disziplin der Philosophie abgelehnt.

 Lotze stimmt Kant zu, „daß wir nur in der Form des Urteils die Denkhandlungen vollziehen, durch welche wir irgend Etwas von dem Wirklichen behaupten“ (Metaphysik, S. 22), bezweifelt aber die Gewissheit, dass die Urteilsformen vollständig erkannt seien. Da er selbst aber keine anderen als die Kants kennt, muss er andere Methoden benennen, um das wahre Sein für uns begreiflich zu machen. Wenn Erfahrung und diskursives Denken nicht ausreicht, um das wahre Sein zu ergründen, und wenn es ohne diese Erkenntnisquellen auch nicht geht, so ergänzt Lotze diese um anderen Erkenntnisquellen, die er in der „Erklärung“, einer „anfänglich gewissen Überzeugung“, in der regressiven Methode (S. 179), in einer „Werthschätzung“ (S. 3), unserem natürlichen Vorverständnis, in den „Bedürfnissen, Wünschen und Hoffnungen“, die dem „Gemüthe“ entspringen, dem Interesse des „denkenden Geistes“, dem „natürlichen Wahrscheinlichkeitsgefühle“ (S. 14) und letztlich im „Glauben“ (S. 15) und im Erlebnis Gottes findet.

   “(...) alle Erklärung ist doch zuletzt Nichts anderes, als die Zurückführung eines bloßen Zusammenseins zweier Thatsachen auf eine innere Zusammengehörigkeit nach einem allgemeinen Gesetze; alles Bedürfniß einer Erklärung, und das Recht sie zu verlangen, beruht daher auf der anfänglich gewissen Überzeugung, in Wahrheit sein und geschehen könne nur das, wofür sich in einem allgemeinen Zusammenhang der Dinge der Grund seiner Möglichkeit und in besonderen Thatsachen dieses Zusammenhanges der Grund seiner nothwendigen Verwirklichung in bestimmtem Ort und Augenblicke finde.“ (Metaphysik, S.  7)  Diese Erklärung (von Gesetzlichkeit) sei aber nicht ausreichend. Wir haben immer schon ein natürliches Vorverständnis vom Sein  nach Lotze, an das die philosophische Behandlung des Seins anknüpfen müsse. Lotze nennt dieses Vorverständnis  „die natürliche Weltauffassung“, er spricht von einer „selbstwüchsige(n) Ontologie, mit welcher wir alle im Leben unsere Beurtheilung der Ereignisse bestreiten. Zu bewußten Grundsätzen versuchte erst dann das Nachsinnen diese Voraussetzungen zu gestalten, als zugleich das Bedürfnis bemerkbar wurde, Widersprüchen zu entgehen, in welche ihre sorglos fortgesetzte Anwendung auf den erweiterten Inhalt der Weltkenntniß verwickelt hatte. So entstand Philosophie, und in ihr die ontologischen Untersuchungen.“ (Metaphysik, S. 25)  Aber auch in der Philosophie, die den Anspruch hat, widerspruchsfreie Erkenntnisse zu erzeugen, gilt als letztes Kriterium für das, was „wahrhaftes Sein“ ist, ein „natürliches Wahrscheinlichkeitsgefühl und der „Glauben“.  “(...) ich möchte dem natürlichen Wahrscheinlichkeitsgefühle, das doch an letzter Stelle über alle unsere philosophischen Unternehmungen richtet, ein günstiges Vorurtheil über das Vorhaben einer Zusammenfassung dessen abgewinnen, was wir unabhängig von der Erfahrung, und als Antwort auf ihre an uns gerichteten Fragen, über Natur und Zusammenhang des Wirklichen glauben behaupten zu müssen. Ausdrücklich vermeide ich es jedoch, das Recht zu diesem Glauben, dessen wir uns thatsächlich doch alle nicht erwehren, durch eine vorgängige erkenntnißtheoretische Untersuchung begründen zu wollen.“ (Metaphysik, S. 15)  Ist erst einmal die Reflexion der Erkenntnis beiseite geschoben, dann kann man sich gleich auf den Weltgrund Gott beziehen.

 Konkret folgt seine Ontologie einem einfachen Schema, das sich regelmäßig auf den Stufen der ontologischen Betrachtung wiederholt: Zuerst begründet er die Reflexion auf die ontologischen Voraussetzungen der Wissenschaften, die auf empirischer Forschung beruhen. Dann diskutiert er zweitens die in der philosophischen Tradition gegebenen Antworten, um diese als nicht haltbar aufzuweisen. Schließlich begründet er einen allgemeinen Weltgrund mit dem Argument, dass nur dieser die ontologischen Voraussetzungen der positiven Wissenschaften ermöglichen könne. Zugleich gesteht er seinen naturwissenschaftlichen Zeitgenossen zu, dass dieser Weltgrund nicht die gleiche rationale Dignität habe wie die aus Erfahrung gewonnene Erkenntnis. Das hindert ihn aber nicht, aus seinem Weltgrund eine dogmatische Theologie zu machen, d.h. das Christentum bis ins Einzelne zu rechtfertigen, und mit apodiktischer Gewissheit daraus seine Werte zu rechtfertigen. (Siehe unten.)

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 Bereits die Frage nach dem wahrhaften Sein impliziert bei Lotze den Zusammenhang zwischen Ontologie und Wertphilosophie. Nach den Frühschriften ist für Lotze Metaphysik die Anstrengung „Einheit in den Stoff der Bildung zu bringen“. „Um die verschiedenen zufälligen Ansichten der Bildung untereinander vergleichbar zu machen, müssen wir das hervorheben, was in jenem Begriffe des wahrhaften Seienden das allein allen Gemeinsame ist. Es ist dies aber das sittliche Gewicht, das auf diesen Begriff gelegt wird, und welches einen von der anderweitigen Bestimmung desselben allerdings verschiedenen Inhalt hat. Wer vom wahrhaft Seienden spricht, der verlangt, das an und für sich Wertvolle zu wissen, nicht das Gleichgültige. Dieser Gegensatz liegt jenem Begriffe zu Grunde“ (Zitiert nach: Schnädelbach: Philosophie, S. 211). Die spätere Schrift zur Metaphysik geht zwar differenzierter vor, läuft aber in ihrem argumentativen Ziel auf diesen Grundgedanken hinaus. Wie sich schon das einzelne Ding, d.h. eine Substanz, ein Subjekt, im Wechsel seiner Zustände nur denken lässt in Analogie zu unserem einheitlichen Bewusstsein, so stehen alle Dinge in Wechselwirkung. Das Wesen des Dings ist durch seine Beziehungen gegeben. Diese Wechselwirkung aller Dinge hätte aber „keinen Abschluss ohne die Annahme eines unendlichen, sie alle umfassenden Weltgrundes (Spinoza, Leibniz).“ (Vorländer: Geschichte, S. 407)  Die Begründung dieses Weltgrundes könne aber nicht nur argumentativ sein, dies verfiehle der Kritik der Gottesbeweise ( wie etwa bei Kant) (vgl. Mikrokosmos III, S. 546 u. 549), sondern beruhe wesentlich auf der gefühlsmäßigen Basis unseres eigenen nicht nur geistigen) Gemüts, das uns die einzige unmittelbar bekannte Wirklichkeit sei. Weiter sieht Lotze Inseln der Zweckmäßigkeit nicht nur im organischen Bereich (vgl. Kant, KrdUrk, S. 528), sondern auch in der für ihn nicht toten materiellen Welt, etwa dem Planetensystem. Diese „Zweckmäßigkeit“ sei nicht denkbar ohne eine Ursache.

 Gegen ontologische Erklärungen der traditionellen Metaphysik wendet Lotze zurecht ein: „die Metaphysik hat nicht die Wirklichkeit zu machen, sondern sie anzuerkennen; die innere Ordnung des Gegebenen zu erforschen, nicht das Gegebene abzuleiten von dem, was eben nicht gegeben ist. Sie hat sich, um diese Aufgabe zu erfüllen, vor dem Mißverständnisse zu hüten, die Abstractionen, durch welche sie für ihren Gebrauch einzelne Bestimmungen des Wirklichen fixiert, als constructive und selbständige Elemente anzusehen, die sie aus eignen Mitteln wieder zum Aufbau des Wirklichen benutzen könnte.“ (Metaphysik, S. 163)  Auch gegen Hegels „Nachconstruction der Weltentwicklung“ aus dem Absoluten (S. 170)  wendet sich Lotze mit dem Argument, dass jener „das Abstracteste zur Wurzel des Concretesten“ mache (S. 170).

 Dagegen behauptet Lotze entsprechend seiner induktiven Metaphysik einen ontologischen Realismus. In seiner Symbolik ist M der Urcharakter der Welt, φ die Funktion und AB bis R sind die einzelnen Zustände der Welt. Der Idealismus behauptet: M = φ  (ABR), sein Realismus dagegen (ABR) φ = M. „Durch die erste Stellung will ich ausdrücken, daß M als das formbestimmende Prius gilt, dessen Thätigkeit, sei sie nun Selbsterhaltung oder Entwicklung, in jedem Augenblicke den Bestand der Weltelemente und die Gestalt ihrer Verbindung bedingt, beide veränderlich innerhalb der Grenzen, welche ihre Uebereinstimmung mit M feststellt; in der zweiten erscheint M als die veränderliche Endgestalt, welche die Welt in jedem Augenblicke durch die Wechselwirkungen ihrer Elemente annimmt, auch sie zwischen Grenzen eingeschränkt, welche die in diesen Wirkungen beständig gleichmäßig herrschende Nothwendigkeit zieht.“ (S. 173)  Die Idee M ist die „lebende Seele der Weltbildung“. Sie ist wie die prästabilierte Harmonie von Leibniz und wir wie die anderen Dinge sind die von ihr bedingten Monaden. Sie ist Gott, der aber nicht mehr diskursiv erfassbar, sondern letztlich nur irrational erlebbar ist.

 „(...) nicht die fragmentarische Beobachtung, die uns zu Gebot steht, könnte ihn uns lehren, sondern nur die versagte Uebersicht des Alls; ja nicht einmal die schrankenlos erweiterte Beobachtung würde hinreichen ihn zu fassen: mit allen Organen unsers lebendigen Seins müßte er eben erlebt werden. Und hätten wir selbst durch eine Eingebung irgend welcher Art uns sein bemächtigt, so würden uns alle Denkformen fehlen, durch welche wir die einfache Fülle des Geschauten in den wissenschaftlich gegliederten Zusammenhang einer Lehre auseinanderbreiten könnten.“ (Metaphysik, S. 179).   Die ontologische Weltkonstruktion Lotzes endet im Irrationalismus, danach kann alles, was der Professor Lotze behaupten will, ex cathedra verkündet werden – als sein Erlebnis.

 Da wir unfähig sind, eine „abstrakte Wahrheit, welche den Erzengeln im Himmel imponieren müßte“, zu erkennen (S. 182), bleibt als letztes Auskunftmittel doch wieder nur der Glaube. Lotze hat deshalb auch keine Schwierigkeiten, dem erkenntnistheoretischen Skeptizismus Recht zu geben. „Jene allgemein menschliche Subjectivität aller unserer Erkenntniß geben wir daher um so einfacher zu, je deutlicher wir außerdem einsehen, daß sie unvermeidlich ist, und daß wir zwar auf alle Erkenntniß verzichten, aber eben an die Stelle der bezweifelten keine andere setzen können, die demselben Vorwurfe nicht ausgesetzt wäre.“ (S. 182)  Wenn aber die bezweifelte Erkenntnis den gleichen Rang hat wie eine andere ihr entgegengesetzte Erkenntnis, weil alle zweifelhaft sind, dann ist alles und sein Gegenteil begründbar. Das Denken wird irrational. „(...) so bleibt uns in Bezug auf sie (die Kritik unserer Gedanken, B.G.) allerdings nur ein Zutrauen der Vernunft zu sich selbst, oder die Gewißheit des Glaubens übrig, daß überhaupt Sinn in der Welt ist, und daß die Natur der Wirklichkeit, die auch uns selbst in sich einschließt, unserem Geiste nur Denknotwendigkeiten gegeben habe, die mit ihr übereinstimmen.“ (S. 183)

 Wir glauben an den Weltgrund, weil er uns Denknotwendigkeiten aufgibt, und da er uns Denknotwendigkeiten aufgegeben hat, muss man an den Weltgrund glauben. M = M. Lotzes Philosophie ist auf ihrem Gipfel – reine Tautologie.

 Was Lotze aber in seiner Ontologie tatsächlich bestimmt, ist nicht Sein überhaupt, das Wesen der Dinge, wahrhaftes Sein, sondern er macht sein subjektives Bewusstsein vom Weltgrund oder Gott zu Sein vor allem Bewusstsein, seine Weltanschauung, aus der Unsicherheit der bürgerlichen Philosophie entsprungen, macht er zur Ontologie, seine ideologischen Bedürfnisse werden zum Gemüt an sich. Lotze will den „Rest“ (S. 22)  denken, der prinzipiell nicht im Denken aufgehen kann und hypostasiert doch nur sein Denken. Er will das Andere des Denkens erkennen und bleibt doch im Denken. Er will die materiellen Dinge in den Kopf pressen, ohne ihn zerbersten zu müssen, und sein geistiges Gefühl als Weltgrund aufspreizen, ohne verrückt zu werden.

 Dass ein Philosophieprofessor im 19. Jahrhundert diesen höheren Blödsinn verbreitet, zeigt die tiefe Kluft zum Stand des Denkens, der in Kants kritischer Philosophie erreicht war: „So ist denn also aller Streit über die Natur unseres denkenden Wesens und der Verknüpfung desselben mit der Körperwelt lediglich eine Folge davon, daß man in Ansehung dessen, wovon man nichts weiß, die Lücke durch Paralogismen der Vernunft ausfüllt, da man seine Gedanken zu Sachen macht und sie hypostasiert, woraus eingebildete Wissenschaft, sowohl in Ansehung dessen, der bejahend, als dessen, der verneinend behauptet, entspringt, indem ein jeder entweder von Gegenständen etwas zu wissen vermeint, davon kein Mensch einigen Begriff hat, oder seine eigenen Vorstellungen zu Gegenständen macht, und sich so in einem ewigen Zirkel von Zweideutigkeiten und Widersprüchen herumdreht. Nichts, als die Nüchternheit einer strengen, aber gerechten Kritik, kann von diesem dogmatischen Blendwerke, der so viele durch eingebildete Glückseligkeit, unter Theorien und Systemen hinhält, befreien, und alle unsere spekulativen Ansprüche bloß auf das Feld möglicher Erfahrung einschränken, nicht etwa durch schalen Spott über so oft fehlgeschlagene Versuche, oder fromme Seufzer über die Schranken unserer Vernunft, sondern vermittels einer nach sicheren Grundsätzen vollzogenen Grenzbestimmung derselben“. (Kant: KrdrV., S. A395)  Alle Aussagen über das Jenseits unseres Bewusstseins können immer nur soweit gehen zu sagen, dass es eine Ursache der Erscheinungen geben muss. Wenn wir etwas Substanzielles als wahr denken können, dann muss es auch ein Beharrliches in der ontologischen Sphäre geben, aber jede Bestimmung dessen ist immer schon Bewusstsein. Und wenn in der Natur teleologische Beziehungen feststellbar sind, dann müssen wir ein intelligibles Substrat unterstellen, ohne über dieses mehr aussagen zu können, als dass es sein muss. Jede konkrete Bestimmung dieser ontologischen Korrelate des Denkens ist aber selbst schon wieder Denken und damit Bewusstsein. Selbst die primären Qualitäten Lockes unterstehen schon den Formen der Anschauung und den Kategorien wie der Name „Qualität“ bereits besagt. „Denn alle Schwierigkeiten, welche die Verbindung der denkenden Natur mit der Materie treffen, entspringen ohne Ausnahme lediglich aus jener erschlichenen dualistischen Vorstellung: daß Materie, als solche, nicht Erscheinung, d.i. bloße Vorstellung des Gemüts, der ein unbekannter Gegenstand entspricht, sondern der Gegenstand an sich selbst sei, so wie er außer uns und unabhängig von aller Sinnlichkeit existiert.“ (KrdrV., S. A 391)  Auch Friedrich Engels, der Kants unerkennbarem „Ding an sich“ naiv die Erfolge der Wissenschaft und Technik im 19. Jahrhundert entgegenstellt, ontologisiert den materiellen Lebensprozess der Gesellschaft, und zieht daraus die falsche Konsequenz einer zwangsläufigen Entwicklung zum Sozialismus. Der Fortschritt der Naturwissenschaften ist jedoch kein Argument gegen die prinzipielle Begrenzung unserer Erkenntnis. „Ins Innere der Natur dringt Beobachtung und Zergliederung der Erscheinungen, und man kann nicht wissen, wie weit dieses mit der Zeit gehen werde. Jene transzendentalen Fragen aber, die über die Natur hinausgehen, würden wir bei allem dem doch niemals beantworten können, wenn uns auch die ganze Natur (als Zusammenhang der Erscheinungen) aufgedeckt wäre, da es uns nicht einmal gegeben ist, unser eigenes Gemüt mit einer anderen Anschauung, als der unseres inneren Sinnes, zu beobachten.“ (KrdrV., S. A 278)  Rational ist Ontologie nur als negative denkbar. Wir können immer nur sagen, das unseren wahren Erkenntnissen ein ontologisches Korrelat entspricht, nicht aber können wir dieses Korrelat positiv bestimmen. (Vgl. Haag: Fortschritt, S. 104 f., 163)

 Ontologisch ist Kant zufolge nur, dass überhaupt etwas ist als Ursache der sinnlichen Erfahrung, aber dieses Etwas als „Ding an sich“ ist für uns nur die unbekannte Ursache der Erscheinung. Eine notwendig anzunehmende ontologische Gesetzmäßigkeit der äußeren Natur kann für die Forschung nur eine „regulative Idee“ sein, die wir dieser Forschung zu Grunde legen. Erst das aus Erfahrung und begrifflichem Denken bewiesene Naturgesetz macht aus dieser regulativen Idee eine konstitutive – allerdings nur für das einzelne bewiesene Gesetz. Auch feststellbare teleologische Abläufe in der Natur dürfen nicht zu einer Zweckmäßigkeit der ganzen Welt verallgemeiner werden. Ontologisch muss man hier zwar ein „intelligibles Substrat“ unterstellen, aber der Mensch kann immer nur sagen, dass es notwendig solch ein intelligibles Substrat gibt, nicht aber was dieses ist (vgl. Kant: Urteilskraft, S. 528)  Allgemein gilt nach Kant, „daß der Verstand a priori niemals mehr leisten könne, als die Form einer möglichen Erfahrung überhaupt zu antizipieren, und, da dasjenige, was nicht Erscheinung ist, kein Gegenstand der Erfahrung sein kann, daß er die Schranken der Sinnlichkeit, innerhalb denen uns allein Gegenstände gegeben werden, niemals überschreiten könne. Seine Grundsätze sind bloß Prinzipien der Exposition der Erscheinungen, und der stolze Name der Ontologie, welche sich anmaßt, von Dingen überhaupt synthetische Erkenntnisse a priori in einer systematischen Doktrin zu geben (z.E. den Grundsatz der Kausalität) muß dem bescheidenen, einer bloßen Analytik des reinen Verstandes Platz machen.“ (KrdrV., B 303)  Für uns gibt es nur Erscheinungen und ihre Gesetze, die wir in ihnen nachweisen können. Es gilt dann: „Die Bedingungen  a priori einer möglichen Erfahrung überhaupt sind zugleich Bedingungen der Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung. Nun behaupte ich: die eben angeführten Kategorien sind nichts anderes, als die Bedingungen des Denkens in einer möglichen Erfahrung, sowie Raum und Zeit die Bedingungen der Anschauung zu eben derselben enthalten. Also sind jene auch Grundbegriffe, Objekte überhaupt zu den Erscheinungen  zu denken, und haben also a priori objektive Gültigkeit“. (KrdrV, A 111)  

 Dagegen  wehrt sich Lotze, indem er auf die mögliche Unvollständigkeit der Kategorien und damit der logischen Formen verweist (Metaphysik, S. 22), die Kategorien gar als „philosophisches Spielzeug“ bezeichnet (S. 23). Aber mehr als denunzierende Formulieren kann er gegen Kant nicht vorbringen. Statt dessen behauptet er einfach seinen teleologischen Idealismus als christliche Ideologie.

 Lotze hat Recht, wenn er mit Hegel Erkenntnistheorie als wenig sachhaltig kritisiert und das “beständige Wetzen der Messer” langweilig findet, wenn man damit nichts schneidet (Metaphysik, S. 15). Aber ohne erkenntnistheoretische Reflexion geht es auch nicht. Seine Einsicht, dass die Erkenntnis „selbst (...) die Grenzen ihrer Competenz bestimmen“ (S. 15) muss, hält ihn nicht davon ab, diese Grenzen systematisch zu überschreiten. Hier rächt sich das mangelnde Durchdenken seiner Thesen – oder besser  - das Ignorieren bereits gewonnener Einsichten. Philosophisches Denken geht bei Lotze von der Wissenschaft aus und hin zum Irrationalen. „Es scheint ganz natürlich, das Denken werde durch keines seiner Hülfsmittel, durch keinen Gedanken also, die wesentliche Eigenheit des wirklichen Seins durchdringen und erschöpfen, worin es ja selbst einen Gegensatz zu allem bloßen Gedachtsein findet. Höchstes erleben lasse sich in anderer Weise das wirkliche Sein, und mit Rücksicht auf solche Erlebnisse lasse sich dann noch ein Erkenntnißgrund aussprechen, welcher uns zwar nicht dazu nöthig ist, auf die unmittelbar erlebte Gegenwart des wirklichen Seins erst zu schließen, wohl aber uns berechtigt, die Wahrheit dieser erlebten Gegenwart gegen jeden Zweifel aufrecht zu erhalten. Man verzichtet daher darauf, durch Begriffe den Unterschied des wirklichen Seins von seinem eignen Begriffe klar zu machen; aber in der unmittelbaren sinnlichen Empfindung hat man stets den Erkenntnisgrund gesehen, der uns die Gegenwart des wirklichen Seins verbürgt.“ (Metaphysik, S. 28)

 Was seine Empfindungen und Erlebnisse prägt, ist nicht ein bewusstseinsunabhängiges Sein, sondern die historisch entstandene Gesellschaft, die Lotze zur ontologischen verklärt; was daraus an konkreten „Werthen“ entsteht, sind die der Herrschaftsverhältnisse seiner Zeit (sieh unten 2.9.). Die soziale Funktion der Ontologie, die Adorno im Blick auf Heidegger bestimmt hat, gilt analog auch für Lotzes Denken. „Stillschweigend wird Ontologie verstanden als Bereitschaft, eine heteronome, der Rechtfertigung vorm Bewußtsein enthobene Ordnung zu sanktionieren. Daß derlei Auslegungen höheren Orts als Mißverständnis, Abgleiten ins Ontische, Mangel an Radikalismus der Frage dementiert werden, verstärkt nur die Würde des Appells: Ontologie scheint um so numinoser, je weniger sie auf bestimmte Inhalte zu fixieren ist, die dem vorwitzigen Verstand einzuhaken erlaubten. Ungreifbarkeit wird zur Unangreifbarkeit.“ (Adorno: Negative Dialektik, S. 69)  Das Besondere Lotzes ist es, dass er sogar die von Adorno kritisierte Rechtfertigung der Ordnung nicht als Mißverständnis bestreitet, sondern zum Programm seiner Philosophie macht. Aus dem Philosophen als Priester der Wahrheit (Fichte) wird der Priester des Bestehenden.

 Der Irrationalismus Lotzes muss sich auch in den anderen Gegenständen des Denkens zeigen, die Aspekte der Begründung seines Wertbegriffs sind.

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2.1.2.   Teleologischer Idealismus

 Wenn es geistige Begriffe auch höherer Art gibt, die naturwissenschaftlich gewonnene Erfahrungsdaten organisieren können, dann kann die Welt nicht allein als Mechanismus erklärt werden, wie es der vulgäre naturwissenschaftliche Materialismus seiner Zeit machte. Von diesem Gedanken ausgehend ist es dann nicht mehr weit zu der Behauptung, dass die Kausalketten des Naturgeschehens selber einem höheren Zweck unterliegen, dass „keine Theorie der Welt als Wahrheit und Wissenschaft gelten könne, welche nicht imstande wäre, alle besonderen Teile des Weltlaufs als unselbständige Folgen eines einzigen allgemeinen Prinzips zu erklären“ (zitiert nach Hirschberger II, S. 549). Zwar behauptet Lotze eine solche Teleologie zunächst nur hypothetisch, aber im weiteren Verlauf seiner Schriften wird daraus bald eine kategorische Aussage. Alle Kausalketten in der Natur wirken zusammen und unterstehen einer „Allursache, die er in Gott, und zwar in einem geistigen und personalen Gott – hier über Fechners Pantheismus hinausschreitend -, sehen will.“ (Hirschberger II, S. 549)  Zwar unterscheidet Lotze zwischen streng wissenschaftlichen Aussagen wie in den empirisch verfahrenden Naturwissenschaften und seinem spekulativ gewonnenen teleologischen Idealismus, aber die Gottesbehauptung ist ihm keine bloße Hypothese. „Nur ein Geist, so schien mir, der im Mittelpunkt des Universums stände, das er selbst geschaffen, könnte mit der Kenntnis des letzten Zweckes, den er seiner Schöpfung gegeben, alle ihre einzelnen Teile vor sich vorüberziehen lassen in der majestätischen Folge einer ununterbrochenen Entwicklung.“ (Zitiert nach Hirschberger II, S. 549)  In dieser zwiespältigen Auffassung wird eine neue Tradition des Satzes: credo quia absurdum, gestiftet. Galt spätestens nach Ockham, dass Gott nicht beweisbar ist, man nur an ihm glauben könne, so dass sich die Naturwissenschaften und mit ihnen jede weltliche Wissenschaft von der Theologie emanzipieren konnten, so macht Lotze nun aus den erkenntnistheoretischen und logischen Problemen der Naturwissenschaften heraus eine Gasse frei, um durch sie eine neue spekulative Begründung Gottes zu ermöglichen. (Die absurde Variante dieser Denkfigur findet sich in einer literarischen Figur bei Dostojewski, ein Irrer, der aus der Mathematik heraus Gott beweisen will. Die heutige Gestalt dieser Denkfigur will aus den ungelösten Problemen des „Urknalls“  heraus wieder auf einen Verursacher der Welt schließen.) Dass die modernen Naturwissenschaften in ihrer konkreten Forschung und Darstellung auf einen Gottesbegriff verzichten, ist dem metaphysischen Bedürfnis der Theologen ein Dorn im Auge, und deshalb versuchen sie ihren Gott irgendwie eklektizistisch an die Wissenschaft anzubinden. Lotze liefert dafür mit seiner induktiven Metaphysik das Modell.

 Nach Schnädelbach ist Lotzes Werttheorie nicht primär dem Auseinandertreten von strukturellem Sein und vernünftigen Sollen in der sich durchsetzenden bürgerlichen Gesellschaft geschuldet, sondern eine Antwort auf das Sinnproblem dieser Epoche. „Seit Lotze ist ‚Idealismus’ wesentlich Sinngebungs-Idealismus: eine höhere ‚Weltansicht’ als die der Wissenschaft, die es gestattet, vom ‚Standpunkt des Ideal’ (F.A.Lange) aus zu erkennen, welchen Sinn all das hat, was die Wissenschaft zwar erklären, aber nicht deuten kann. Nicht ‚Sein und Sollen’, sondern ‚Sein und Sinn’ bezeichnet das Spannungsverhältnis, in dem Lotzes teleologischer Idealismus steht und die Wertphilosophie überhaupt entspringt. Lotzes ‚idealistische Weltansicht’ gehört so zugleich in die Geschichte der Weltanschauung, die überhaupt nur von der Geschichte des metaphysischen Sinnproblems her verstanden werden kann, und sie ist die erste Gestalt einer idealistischen Weltanschauung. Wertphilosophie und Weltanschauung sind wohl überhaupt untrennbar.“ (Philosophie, S. 216)  Bestätigt wird diese Deutung der Philosophie Lotzes durch ihre Fundierung im metaphysischen Bedürfnis seiner Zeit, so wie es Lotze deutet (siehe unten). Die kapitalistische Ökonomie, deren Zweck die Produktion um der Produktion willen ist und in der die funktional eingebundenen Naturwissenschaften dazu dienen, Produktivität zu produzieren, enthält als Ganzes keinen Sinn mehr. Zumindest über die Abkopplung von Sinn und Naturwissenschaft war sich Lotze im klaren. Indem er die Naturforschung durch seinen aufgesetzten teleologischen Idealismus ergänzt, befriedigt er dieses Bedürfnis nach „Sinngebung des Sinnlosen“ (Th. Lessing), legitimiert er die Akkumulation von Kapital um der Akkumulation willen.

 Die Reduktion der Wertphilosophie auf die Sinnproblematik durch Schnädelbach verkürzt aber Lotzes Denken. Schnädelbach bezieht sich vor allem auf Frühschriften Lotzes. In seiner „Metaphysik“ von 1879 kritisiert dieser seine früheren Äußerungen mit dem Argument, dass wir „den lebendigen thätigen Sinn der Welt gar nicht voll kennen, weil diesen nur Gott weiß, so dass wir „deshalb nicht im Stande“ sind, „aus ihn abzuleiten, was wir nur in Einer allgemeinen Ueberzeugung in ihn zurückleiten versuchen können“ (Metaphysik, S. 604). Dagegen stellt Lotze in dieser Schrift den Gegensatz von Sein und Sollen wieder in das Zentrum seines Denkens (vgl. ebda, das Zitat auch unten: „Ideologisches Bedürfnis“). Da allerdings das Sollen bei Lotze letztlich auf dem Weltgrund basiert, der auch die Sinngebung veranstaltet, lässt sich Sinn und Sollen nicht konsequent trennen, wie überhaupt widersprüchliche Aussagen typisch für sein Philosophieren aus der „Ahnung“ sind. Sein teleologischer Idealismus wie seine gesamte Ontologie und Theologie laufen wie seine Wertphilosophie auf jene „Sinngebung des Sinnlosen“ hinaus, die allein aus dem empirischen Subjekt dieses bürgerlichen Denkers entsprungen ist – entgegen gelegentlicher Versicherung von Objektivität.

 Georg Lukács sieht in Friedrich Heinrich Jacobis Denunziation Spinozas und später der klassischen deutschen Philosophie als Atheismus die „Bedeutung, daß sie die prinzipielle Unvereinbarkeit von konsequent durchgeführter Philosophie und Religion bewußt gemacht und energisch auf die Tagesordnung gestellt hat. Und zwar in einer Weise, daß der als notwendig atheistisch deklarierten fortschrittlichen Philosophie jetzt nicht mehr eine christliche oder wenigstens das Christentum respektierende reaktionäre Philosophie gegenübergestellt wurde, sondern ein nackter Intuitionismus, ein Irrationalismus sans phrase, ein Leugnen des begrifflich-philosophischen, des vernünftigen Denkens überhaupt.“ (Zerstörung, S. 109)  Dies ist der philosophiehistorische Hintergrund für Lotzes teleologischen Idealismus. Er weiß, dass er seine christliche Religion nicht mit philosophischen Mitteln begründen kann und wendet sich deshalb offen dem Irrationalismus zu, wie vor allem sein Begriff der Seele und des Gemüts zeigen wird.

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2.1.3.   Die Substanzialität der Seele

 Die Denkoperationen, die Einheit des Bewusstseins und ein gerichteter Wille können nicht nur logische Funktionen der menschlichen Psyche sein, sie sind nur denkbar als Vermögen einer Seele, die an sich besteht. Gegen die alleinige Betrachtung der Seele als logische Funktion oder gar als physisches Geschehen, wendet Lotze ein: „aber die innere Erfahrung bietet uns die Thatsache einer Einheit des Bewußtseins als den (...) nicht zu überwindenden Grund dar, auf welchem allerdings die Ueberzeugung von der Selbständigkeit eines Seelenwesens in einer sogleich auszuführenden Weise sicher beruhen kann.“ (Metaphysik, S. 476)  „Jede Vergleichung zweier Vorstellungen, die damit endet, ihre Inhalte gleich oder ungleich zu finden, setzt die völlig untheilbare Einheit Dessen voraus, was diese Thätigkeit der Vergleichung ausführt: schlechthin Dasselbe muß es gewesen sein, was zuerst die Vorstellung des a faßt, dann die des b, und das zugleich sich der Art und der Weise der Differenz bewußt wird, die zwischen beiden besteht.“ (Metaphysik, S. 477)  Damit scheint die Substantialität der Seele begründet. Da die Seele aber auch fehlen kann, Unsicherheit zeigt, ist die Seele als Substanz nichts Absolutes. „viele Bedingungen sind denkbar, welche diese mögliche Reflexion dennoch häufig nicht geschehen lassen; daß sie aber überhaupt geschehen kann, beweist uns die Einheit des thätigen Subjects, welches sie vollzieht.“ (S. 478)  Die substantiell gedachte Seele hat wegen ihrer Fragilität deshalb eine Stütze nötig. Lotze kommt deshalb auf den „Gedanken Leibnizens“ zurück, „zwischen den unzählbaren Monaden, die, wesentlich gleichartiger Natur, das lebendige Geschöpf zusammensetzen, befinde sich doch eine prima inter pares, eine Centralmonade, welche theils durch Vorzüge ihrer qualitativen Natur theils durch die Gunst ihrer vortheilhaften Stellung zwischen den übrigen zur Entfaltung des intensivsten geistigen Lebens und zur Beherrschung aller befähigt wäre; sie würde Das sein, was wir unsere Seele, das Subject unsers einheitlichen Bewußtseins nennen; die andern, gleichfalls innerlich seelisch erregt, würden doch für unsere innere Erfahrung unmittelbar gleich unzugänglich sein, wie in der Gesellschaft das Innere einer Person es ist für jede andere.“ (S. 479 f.)  Dass die „Seele eine untheilbare und einfache Substanz sei“, wird dann zwar wieder gegenüber dem wissenschaftlichen Bewußsein seiner Zeit relativiert und als erkenntnistheoretisch nicht beweisbar aufgezeigt, aber anschließend kraft seines theoretischen Bedürfnisses behauptet. Gegen Kant wendet Lotze ein: „indem er jenen Schluß von der Einheit des Subjekts auf die Einheit der Substanz zu machen verbietet, gibt er eben damit zu, daß derselbe etwas Wichtiges bedeuten würde, wenn er nur gemacht werden dürfte; es fehlen ihm blos die Mittelglieder, druch die wir berechtigt werden könnten, die Seele unter diesen fruchtbaren Begriff der Substanz sammt allen seinen legitimen Consequenzen unterzuordnen.“ (Metaphysik, S. 483)

 Wenn wir in unserer Seele die sinnlichen Vorstellungen verbinden, vergleichen, unterscheiden und Gemeinsamkeiten feststellen, dann tun wir zu den empirischen Wahrnehmungen etwas hinzu. Ein solches Vermögen aber, dass selbst Erkenntnisse hervorbringt und dabei tätig ist, kann nicht bloß eine logische Funktion sein wie Kant dieses Vermögen bestimmt. Wir haben „Vorstellungen höherer Ordnung“, das „beziehende Wissen“, was ein substanzielles Ich voraussetzt. Diese Vorstellungen höherer Ordnung sprechen nach Lotze auch gegen den mechanischen Materialismus seiner Zeit. „Abgesehen von der Unvergleichlichkeit des Seelischen und Geistigen überhaupt, ist es besonders die Einheit des Bewußtseins und sein neues, nicht mehr mechanisches Tun in der Verarbeitung der Empfindung, was gegen den Materialismus spricht. Die Entstehung der Seele ist als eine Aktion des geistigen Weltgrundes zu denken, der durch die Bildung eines körperlichen Keimes zu ihrer Erzeugung angeregt wurde. Ihre Unsterblichkeit könne die wissenschaftliche Psychologie nicht streng beweisen, sie sei nur Glaube, aber wohlbegründeter Glaube.“ (So die Wiedergabe Hirschbergers, a.a.O., S. 550)  Die Einzelseele ist nach Lotze aber keine absolute Substanz, diese Bestimmung komme nur Gott zu. Aber als relative Substanz habe sie Willensfreiheit, ein Begriff, der bei Lotze zunächst nur die Freiheit der Willkür bedeutet.

 Nach Lotze ist der Mensch nicht frei, weil er als Monade von dem Weltgrund abhängig ist. Als Substanz kann er jedoch auch nicht völlig determiniert sein, denn dann wäre er nicht selbsttätig, sondern bloß wesenloses Anhängsel des absoluten Weltgrundes. Er hat aber Selbstbewusstsein, ist also für sich, und hat einen Willen. Auch von der physischen Welt kann er auf Grund seiner Fähigkeit, selbstständig zu denken, nicht völlig determiniert sein.

 „Für das geistige Leben aber kann auch Der, dem Freiheit nicht überhaupt ein unmöglicher Begriff ist, sie nicht als allgemeinen Character ansehen, sondern sie nur an einem bestimmten Punkte, für die Entschließungen des Willens, verlangen; alles Uebrige, der gesammte Verlauf der Vorstellungen, Gefühle und Strebungen, ist nicht nur, in thierischen und menschlichen Seelen, einem alllgemeingesetzlichen Zusammenhange sichtlich unterworfen, sondern die Verneinung desselben höbe ja sofort die Möglichkeit jeder psychologischen Untersuchung auf, die, wie jede andere Untersuchung, nur auf die Auffindung allgemeingültiger Bedingungen gerichtet sein kann.“ (Metaphysik, S. 474)  Der Mensch hat also einen freien Willen, weil es sonst keine Moral geben könne; seine Gefühle sind unfrei, weil es sonst keine (Lotzeschen) psychologischen Untersuchungen geben könnte – so wie man es braucht, wird es hinkonstruiert.

 Die einzelnen Seelen seien keine „unaufhebliche Wesen“, sie seien im „traumlosen Schlafe Nichts“, bloß „eine Melodie mit Pausen“ und bedürfen deshalb eines sie erhaltenden Grundes. „Aus ihm würden sie wieder entspringen, in folgerechten Anschluß an ihr früheres Sein“ (Metaphysik, S. 602). Als relative Substanzen aber haben sie zumindest in Bezug auf ihre Entscheidungen eine gewisse Freiheit. Warum Lotze die Kontinuität der Seele nicht im Gehirn fundiert, zumal er sagt: „niemals sind Leib und Seele getrennt gewesen gleich zwei Stoffen, deren chemische Wechselwirkung ihre vorherige Zusammenbringung verlangt“ (S. 495), bleibt nur dem ein Rätsel, der seine philosophische Absicht vergisst: die Rechtfertigung des Bestehenden. Da hierzu das Christentum gehört, dessen Legitimation er geben will, kann er die nahe liegende Fundierung der Seele auf das Gehirn nicht akzeptieren.

 Dies ist auch für Lotze der Grund, die These seines Freundes Fechner abzulehnen, der einen Parallelismus von Seele und Leib annahm. Lotze dagegen nimmt eine Wechselwirkung zwischen Seele und Körper an. „Wie schon Descartes, obwohl gerade er Körper und Geist scharf getrennt hatte, sich doch für eine Wechselwirkung aussprach, weil sie eben Tatsache sei, erklärt auch Lotze, daß das Selbstbewußtsein uns davon Kunde gäbe, daß der Leib auf die Seele wirke, z.B. bei der Empfindung, und die Seele auf den Leib, z.B. bei einer Willenshandlung.“ (Hirschberger II, S. 550)  Aber beide sind nicht gleichrangig. Der Seele gebührt die Herrschaft. „(...) die Persönlichkeit aber suchen wir dennoch nicht in beiden auf gleiche Weise, sonder in der Seele allein, in dem Körper nur Nachklang oder Erscheinung ihres Wirkens, denn er ist und bleibt ein Gebiet der Außenwelt für sie, nur dasjenige freilich, auf welches ihre Herrschaft und ihre Empfänglichkeit sich am unmittelbarsten ausbreitet.“ (Metaphysik, S. 495)

 Der Zusammenhang mit der Wertlehre von Lotze wird hier deutlich. Wenn die Seele des Menschen eine Substanz ist, dann haben auch ihre Manifestationen einen höheren Rang als bloß bei einer logischen Funktion. Der logische Begriff, dass ein Satz gilt, wäre zum ontologischen „Gelten“ geworden, das Ausdenken von „Werten“ machte aus dieser Willkür ein wirkliches Hervorbringen, deren Gelten etwas  „Wirkliches“ wäre. Selbst die Relativität der Seele machte aus ihren Manifestationen, wenn sie „wahr“ sind, eine Erscheinung der absoluten Substanz und in der Konsequenz stammten die Werte wieder vom alles erhaltenden Seelengrund – Gott. Aber der Gedanke der Seelensubstanz ist nicht haltbar.

 Nach Kants „Kritik des ersten Paralogismus der reinen Psychologie“ (Kr.d.r.V., S. 376 a = A 348 ff.) setzt die Zusammenfassung empirischer Vorstellungen unter der Einheit des Bewusstseins ein denkendes Ich voraus, das  einfach ist, also geistig und nicht materiell. Aus der Einfachheit der Seele wurde in der Tradition auf die Seele als Substanz geschlossen, die einfach , ewig (zeitlos) und deshalb unsterblich wäre. Diese seelische Tätigkeit ist zwar in der Zeit, wenn ein individuelles Bewusstsein denkt, aber die logische Funktion des Bewusstseins bzw. des Verstandes muss zeitlos sein, denn Zeit als Form der Anschauung ist selbst eine Form des Verstandes. Ein Verstand, der die Zeit als die Form der Anschauung vorschreibt, kann nicht selbst in der Zeit sein. Insoweit scheinen die Vertreter der These, dass unsere Seele eine einfache Substanz sei, recht zu haben. Dagegen argumentiert Kant, dass die logischen Funktionen im Bewusstsein wie dessen Einheit nur erschlossen werden können aus der Bearbeitung des empirischen Materials, das sie unter die Einheit des Bewusstseins bringen. Aus der logischen Funktion des Bewusstseins auf die Unsterblichkeit der Seele oder ihre Substanzstabilität (ontologische Beständigkeit im Wechsel ihrer Akzidentien) zu schließen ist nach Kant ein Fehlschluss (Paralogismus). „Wir haben in dem analytischen Teile der transzendentalen Logik gezeigt: daß reine Kategorien (und unter diesen auch die der Substanz) an sich selbst gar keine objektive Bedeutung haben, wo ihnen nicht eine Anschauung untergelegt ist, auf deren Mannigfaltiges sie, als Funktionen der synthetischen Einheit, angewandt werden können. Ohne das sind sie lediglich Funktionen eines Urteils ohne Inhalt.“ (A.a.O., S. A 348 f.) “Daß ich, als ein denkend Wesen fortdaure, natürlicherweise weder entstehe noch vergehe, das kann ich daraus keineswegs schließen und dazu allein kann mir doch der Begriff der Substantialität meines denkenden Subjekts nutzen, ohne welches ich ihn gar wohl entbehren könnte.“ (A.a.O., S. A 349) Wohl aber kann es nützlich sein, damit irrationale Thesen abzusichern!  “Wir würden auch, wenn wir es gleich darauf anlegten, durch keine sichere Beobachtung eine solche Beharrlichkeit dartun können. Denn das Ich ist zwar in allen Gedanken; es ist aber mit dieser Vorstellung nicht die mindeste Anschauung verbunden, die es von anderen Gegenständen der Anschauung unterschiede. Man kann also zwar wahrnehmen, daß diese Vorstellung bei allem Denken immer wiederum vorkommt, nicht aber, daß es eine stehende und bleibende Anschauung sei, worin die Gedanken (als wandelbar) wechselten.“ (A.a.O., S. A 350)  Zwar können wir erfahren, dass wir als denkendes Ich fortdauern, aber ebenso auch dass wir zeitweilig nicht mehr als denkendes Ich sind (etwa im traumlosen Schlaf). Das einzige, was sich ontologisch bestimmen lässt, ist die Annahme eines intelligiblen Substrats der Seele, von diesem lässt sich aber nichts Positives aussagen (sieh oben) und schon gar nichts Konkretes aus ihm schlussfolgern.

   Wenn Lotze die logischen Funktionen der Seele zur ontologischen Substanz hypostasiert (etwas, was Lotze anderen vorwirft), dann ist sein bewusster Zweck dabei, seinen teleologischen Idealismus eklektizistisch abzusichern. Eine irrationale Begründung aber desavouiert das zu Begründende. Diese Konsequenz muss sich nun auch in den zentralen Begriffen der Wertlehre zeigen: dem Begriff der „Geltung“ und des „Werthes“.

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2.2.   „Geltung“

 Zentral für die Wertphilosophie Lotzes und seiner Nachfolger ist der Begriff „Gelten“. Dass bestimmte Sätze der Philosophie wie z.B. „Alles hat seine Ursache“ gelten, war Gemeingut der Philosophie. Lotze macht daraus aber einen Begriff mit weit reichenden Folgen. Zunächst unterscheidet Lotze den ontologischen Gegenstand von seiner Darstellung im Satz: „(...) wirklich nennen wir ein Ding, welches ist, im Gegensatz zu einem andern, welches nicht ist; wirklich auch ein Ereigniß, welches geschieht oder geschehen ist, im Gegensatz zu dem, welches nicht geschieht; wirklich ein Verhältniß, welches besteht, im Gegensatze zu dem, welches nicht besteht; endlich wirklich (!) wahr (!) nennen wir einen Satz, welcher gilt, im Gegensatz zu dem, dessen Geltung noch fraglich ist.“ (Lotze: Erkennen, S. 511)  Mit „wirklich wahr“  im letzten Teilsatz kommt schon unmerklich eine Erschleichung in diese Unterscheidung: Da Sätze nur im Bewusstsein sind, nicht aber in der ontologisch gedachten Wirklichkeit, werden sie hier ebenfalls wie solches Wirkliches charakterisiert oder der Begriff der Wirklichkeit auf reine Bewusstseinsinhalte ausgedehnt. So sind nicht nur die Inhalte von Sätzen wirklich (z.B. die Beschreibung von Farben, ohne dass sie unmittelbar vor uns sind), sondern auch die Form des Satzes. (Später werden dadurch „Werte“ zu Wirklichem erklärt!) „(...) ein Satz aber  ist weder, wie die Dinge, noch geschieht  er, wie die Ereignisse; auch daß sein Inhalt bestehe wie ein Verhältniß, kann erst gesagt werden, wenn die Dinge sind, zwischen denen er eine Beziehung aussagt; an sich aber, und abgesehen von allen Anwendungen, die er erfahren kann, besteht seine Wirklichkeit darin, daß er gilt und daß sein Gegentheil nicht gilt.“ (Lotze: Erkennen, S. 509 f.)    Lotze lobt Sokrates, weil dieser als erster die Wirklichkeit des Geltens von moralischen Ideen erkannte. Sokrates „erinnerte daran, daß die Begriffe des Guten und des Bösen des Gerechten und des Ungerechten ihren eignen festen und unveränderlichen Sinn haben, den nicht das subjective Belieben bald so bald anders bestimmen könne, sondern dem als einer gegebenen und beständig mit sich identischen Bedeutung Jeder den Inhalt seiner dies Gebiet berührenden Vorstellung lediglich unterzuordnen habe.“ (Lotze: Erkennen, S. 506)  Die ontologisch gedachte Wirklichkeit der logischen Form und ihr ontologisch gedachter Inhalt stützen ihre Gediegenheit wechelseitig.

 Um den Vorwurf abzuwehren, die Ideen seien bloß subjektive Vorstellungen, muss er ihre ontologische Geltung auch vom Wechsel unserer Vorstellungen abgrenzen. „Den Vorstellungen, sofern wir sie haben und fassen, gebührt die Wirklichkeit in dem Sinne eines Ereignisses, sie geschehen in uns, denn als Aeußerungen einer vorstellenden Thätigkeit sind sie nie ein ruhendes Sein, sondern ein dauerndes Werden; ihr Inhalt aber, sofern wir ihn abgesondert betrachten von der vorstellenden Thätigkeit, die wir auf ihn richten, geschieht dann nicht mehr, aber er ist auch nicht so wie Dinge sind, sondern er gilt nur noch.“ (Lotze: Erkennen, S. 512) Die Wirklichkeit der Geltung ist eine „eigene Weise der Wirklichkeit“, sie dagegen als seiend zu behaupten, würde sie „hypostasieren“. Lotze kann diesen kritischen Begriff von Kant hier anwenden, aber nur, indem er die Geltung der Ideen dogmatisch setzt.

 Wenn ein Ereignis geschieht, dann ist es wirklich, auch in unserer sinnlichen Wahrnehmung geschieht es noch, wenn wir jedoch dieses wirkliche Ereignis nun in einen Satz fassen, dann geschieht es nicht mehr, dann ist es wahr in dem Satz dargestellt, d.h. es „gilt“. Nun macht aber Lotze aus „gilt“ das Nomen „Gelten“ oder „Geltung“, d.h. er ontologisiert logische Termini. Für Lotze sagt Gelten kein Sein aus, wohl aber ein „Wirkliches“. Diese Wirklichkeit der Geltung von Ideen bleibt unberührt vom Wechsel der Welt der Erscheinungen, gilt also substanziell.  Allerdings regen Dinge Ideen an und Ideen lassen sich in der Welt des Seins realisieren. Seine Begründung des Geltens aber bleibt tautologisch: Es gilt, weil es gilt.

 Ausdrücklich lehnt Lotze eine aus dem denkenden Subjekt hervorgehende Erzeugung von geltenden Ideen ab, indem er sich gegen „den ganz ungehörigen Nebenbegriff einer Handlung oder Operation der Setzung“ (Erkennen, S. 511) wendet. Die Tatsache, dass (moralische) Ideen einmal von Philosophen in die Philosophie kraft ihrer geistigen Spontaneität eingeführt oder erfunden wurden, ist im Resultat ihrer Setzung, der bestimmten Idee, verschwunden, nicht mehr erkennbar. Deshalb kann Lotze diese Ideen wie ontologisch gedachtes Wirkliches, d.h. objektiv geltend unabhängig vom einzelnen menschlichen Bewusstsein, behaupten (auch wenn er sie vom Seienden unterscheidet). Da Ideen nicht in den Dingen wurzeln, bleibt letztlich nur die Auskunft, sie stammen wie das Sein aus einem allgemeinen Weltgrund (Gott).

 Was die Aufblähung der Bezeichnung „es gilt“ zum Nomen „Gelten“ bei Lotze bezweckt, wird klar in Lotzes Platon-Interpretation: In Analogie zu festen Sachverhalten an sich, unabhängig vom Wechsel der Vorstellungen davon, gelten für Lotze auch Ideen. So deutet Lotze die Platonsche Ideenlehre (fälschlich) um: Ideen seien nicht, wie Platon angeblich sage, in einer eigenen Seinssphäre angesiedelt, sondern Platon habe nach Lotze gemeint, dass sie gelten. Mit dieser Interpretation lassen sich dann auch Ideen oder „Werte“ als geltend charakterisieren, die keinen irgend gearteten Bezug zur außermentalen Sphäre haben. Schon Aristoteles hat an Platon kritisiert, er mache z.B. aus dem Adjektiv „schön“ die Idee der „Schönheit“, die trotz der großen sinnlichen Unterschiede, die Idee solle sowohl für eine schöne Vase, für ein schönes Schiff, für ein schönes Mädchen als auch für die Göttin der Schönheit gelten, das Muster für diese Dinge abgebe.

 Hatte Kant die Vernunftbegriffe (Ideen) noch als Bedingungen der Möglichkeit wahrer Wissenschaft (wozu er die Mathematik und die theoretische Mechanik Newtons zählte (Kant: KrdrV., S. 20 f.) abgeleitet und aus diesen sein Moralgesetz entwickelt, so sind für Lotze Ideen, Ideale, Werte wie überhaupt reine Begriffe des Denkens nicht begründbar. (Eine mögliche Begründung wird allerdings unterstellt, nämlich aus den Bedürfnissen seiner Zeit.)  „Und endlich, was dieses Gelten heiße, muß man nicht wieder mit der Voraussetzung fragen, als ließe sich das, was damit verständlich gemeint ist, noch von etwas Anderem ableiten (...)  So wenig Jemand sagen kann, wie es gemacht wird, daß Etwas ist oder Etwas geschieht, ebenso wenig läßt sich angeben, wie es gemacht wird, daß eine Wahrheit gelte; man muß auch diesen Begriff als einen durchaus nur auf sich beruhenden Grundbegriff ansehen, von dem Jeder wissen kann, was er mit ihm meint, den wir aber nicht durch eine Construction aus Bestandtheilen erzeugen können, welche ihn selbst nicht bereits enthielten.“ (Erkennen, S. 513) 

 Nun sind logische Begriffe tatsächlich nicht ableitbar, sonst müsste man das zu Begründende in der Begründung bereits voraussetzen, die Ableitung logischer Begriffe wäre bereits die Anwendung dieser logischen Begriffe. Wollte ich “gelten“ aus Prämissen schlussfolgern, dann müssten diese bereits gelten, die Begründung wäre zirkulär. (Allerdings rechtfertigen sich logische Begriffe bei der stimmigen Anwendung des Denkens auf die Gegenstände.) Aber Ideen, Ideale und Werte sind inhaltlich bestimmte Begriffe, nicht nur logische Termini, sie als unableitbar zu bestimmen öffnet der Willkür Tür und Tor. Die Hypostase von subjektiven Setzungen als allgemein und notwendig geltende muss zwangsläufig mit anderen subjektiven Wertschöpfungen kollidieren und zum Krieg aller gegen alle führen, also zum Gegenteil dessen, was Lotze bezweckt, nämlich den Zusammenhalt der Gesellschaft mittels moralischen Werten. Auch im Begriff der Geltung steckt bereits diese Kollision. „Denn das Spezifische des Wertes liegt eben darin, daß er statt eines Seins nur eine Geltung hat. Die Setzung ist infolgedessen nichts, wenn sie sich nicht durchsetzt; die Geltung muß fortwährend aktualisiert, daß heißt: geltend gemacht werden, wenn sie sich nicht in leeren Schein auflösen soll. Wer Wert sagt, will geltend machen und durchsetzen. Tugend übt man aus; Normen wendet man an; Befehle werden vollzogen; aber die Werte werden gesetzt und durchgesetzt. Wer ihre Geltung behauptet, muß sie geltend machen. Wer sagt, daß sie gelten, ohne daß ein Mensch sie geltend macht, will betrügen.“ (Schmitt: Tyrannei, S. 32 f.  Dass Carl Schmitt eine fragwürdige fatalistische Konsequenz aus seiner Kritik zieht und inkonsequent dann doch wieder Werte akzeptiert, ändert nichts an der Richtigkeit dieser Kritik, vgl. S. 41.)

 Deutlich wird die subjektive Setzung von Werten an der eigentümlichen Erkenntnisquelle, aus der wir die „ewige Gültigkeit der Ideen“ (516) und „Werthe“ schöpfen, dem „Gemüth“.

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Stand: 31. Mai 2005