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Wissenschaftlicher Beitrag zur Ethik

(Ein Abstrakt dieser Abhandlung können sie im Editorial  lesen!)

 

Bodo Gaßmann

Kritik der Wertphilosophie und ihrer ideologischen Funktion

I. Teil: Der Ursprung der Wertphilosophie bei Hermann Lotze

(Wir haben die Abhandlung in fünf Seiten aufgeteilt, um besser navigieren zu können:

Inhaltsverzeichnis und Einleitung - Historische Voraussetzungen - Begründung der Wertphilosophie 1 - Begründung 2 - Funktion des Wertbegriffs - Anhang)

 

Inhalt

            0.                  Einleitung

0.1              Der Werte-Boom

0.2              Zum Begriff der Ideologie. Eine methodische Vorbemerkung   

           1.           Historische Voraussetzungen

1.1.            Die Durchsetzung der bürgerlichen Welt und die bürgerliche Philosophie

1.2.            Zusammenbruch der idealistischen Weltkonstruktion Hegels

1.3.            Reaktionen der bürgerlichen Philosophie auf den Zusammenbruch des absoluten Idealismus

 2.         Die Begründung der Wertphilosophie

2.1.            Induktive Metaphysik von Lotze

2.1.1.      Ontologie

2.1.2.      Teleologischer Idealismus

2.1.3.      Substanzialität der Seele

2.2.            Geltung

                          (Begründung 2)

2.3.            Das „Gemüth“ und die Abwertung der Vernunft

2.4.            Kritik der Unmittelbarkeit

2.5.            „Werthe“ als willkürliche Setzungen

2.6.            Die einzelnen moralischen Werte als ideelle Existenzbedingungen konservativer Bürger

            3.       Die Funktion des Wertbegriffs bei Lotze

3.1.            Die allgemeine Problematik der Moralphilosophie im bürgerlichen Zeitalter und der Wertbegriff

3.2.            Moralischer und ökonomischer Wert

3.3.            Apologie des bürgerlichen Bewusstseins

3.4.            Ideologische Bedürfnisse

3.5.            Der Irrationalismus Lotzes

3.6.            Historische Bedingungen der Wertphilosophie

3.7.            Die Wirkung Lotzes auf die nachfolgende bürgerliche   Philosophie

            Anhang

           Verwendete Literatur

           Daten zur Philosophie von Hermann Lotze und seiner Zeit

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0.                 Einleitung

 0.1.             Der Werte-Boom

 Mit dem Rückgang expliziter Wertphilosophien wächst paradox die Popularität des moralischen Wertbegriffs. Über Parteigrenzen hinweg werden Werte propagiert, eine Wertedebatte findet im Bundestag statt, Kongresse über Werte werden inszeniert, Arbeitskreise in der SPD kümmern sich um die Grundwerte ihrer Organisation. Konservative Soziologen beklagen den Wertewandel und eine MdB der Grünen bedauert hungernde Aidsweisen in Afrika: „Wer wird diese Kinder erziehen, wer ihnen gesellschaftliche Werte vermitteln“ (AZ aus Namibia – www.az.com.na - vom  5.1.05). Schlägt man in einem verbreiteten Lexikon nach, wird Wert in moralischer Perspektive folgendermaßen definiert: „Wert, Philosophie: in einem weiten Sinn Grund, Norm beziehungsweise Ergebnis einer (positiven) Wertung, das heißt die Bevorzugung einer Handlung vor einer anderen oder eines Gegenstandes, eines Sachverhaltes vor einem anderen. Werte im Sinne der Gründe und Normen für Wertungen sind Thema und Gegenstand der Philosophie im Rahmen werttheoretischer Konzeptionen (Wertphilosophie, Wertethik) und jeder ethisch-politischen Theorie.“ (Brockhaus 2001)  Werte sind zugleich Grund und Ergebnis, positiv und als ausschließende bestimmen sie das Negative, und jede Ethik ist Wertethik, obwohl dieser Begriff erst im 19. Jahrhundert erfunden wurde und viele Ethiker sich von diesem Wort, denn ein mit sich identischer Begriff ist es nicht, distanzieren.

 Es gibt keinen rationalen Begriff des Wertes. Er ist eine subjektive Setzung von Individuen, die keine Objektivität beanspruchen kann. Es gibt über sechs Milliarden Menschen auf der Erde, also gibt es vermutlich auch sechs Milliarden Wertvorstellungen. Mit Moral, die das friedliche Zusammenleben qua allgemein gültige Prinzipien einmal regeln sollte, hat dieses Wort nichts zu tun. Das Wort „Wert“ diente Hitler dazu, seinen imperialistischen Krieg und den Völkermord zu legitimieren: Das deutsche Volk wäre der „Höchstwert, den es überhaupt auf dieser Erde gibt“ (zitiert nach Schmitt: Tyrannei, S. 17), wie es andererseits pazifistischen Richtungen dazu dient, Frieden als „absoluten Wert“ zu setzen (vgl.Joas: Kriege, S. 263). Es ist deshalb kein Wunder, wenn imperialistische Kriege oder Befriedungen von Völkern, die den westlichen Interessen schaden, zugleich als „Wertekrieg“ bezeichnet werden. Und es ist nicht verwunderlich, wenn heute in der Soziologie der Begriff „Wert“ zur Rechtfertigung von Kriegen herhalten muss. So schreibt Joas in seinem Buch mit dem programmatischen Titel: „Krieg und Werte“: „Aus der Abwägung zwischen Werten kann also durchaus ein moralisch begründetes Recht zur Intervention resultieren.“  Dass der Theaterbegriff „Tragik“ das imperialistische Töten von Menschen zusätzlich zum Begriff „Wert“, der immer auch „Wertvolles“ konnotiert,  überhöht, führt zum Tremolo des Wertjargons. „Exemplarisch zeigt dieser aktuelle Fall (Kosovo-Krieg, B.G.) die Schwierigkeit und die Unsicherheit, ja die Tragik der Entscheidung in Wertkonflikten, die für alles Handeln, erst recht für alles politische Handeln, und am stärksten wohl für die Angelegenheiten von Krieg und Frieden, bei denen es buchstäblich ums Leben geht, charakteristisch sind.“ (Krieg und Frieden, S. 43 u. 45)  An diesem Beispiel, dass die Gefährlichkeit des Terminus im Propagandakrieg zeigt, wird seine allgemeine Gefährlichkeit deutlich. Der moralische Wertbegriff ist heute einer der bedeutendsten Verdummungsmittel, der das Bewusstsein der Lohnabhängigen zum blinden Mitmachen manipulieren soll.

 Neben seiner Funktion zur Verschleierung von Kriegsgründen, dient der Wertbegriff der Umdeutung des Grundgesetzes der Bundesrepublik, indem man von „Grundwerten unserer Verfassung“ spricht. Dadurch wird das Recht, das verpflichtend für alle, insbesondere für staatliche Organe ist, zur Moral umgedeutet, die bekanntlich freiwillig ist. Die bürgerlichen Grundrechte sind dann nicht mehr etwas, was jedem selbstverständlich zusteht, sondern sie werden der Konnotation des Wortes gemäß  – wenn überhaupt – gnädig gewährt. Wenn es opportun ist, können sie sogar unzulässig eingeschränkt werden, wie das Asylrecht – entgegen dem Wortlauf der Verfassung –, oder sie werden überhaupt nicht angewandt, wie der Artikel 15, der die Enteignung von Produktionsmitteln erlaubt. (Vgl. zum Zusammenhang von Wertphilosophie und Grundgesetz: C. Schmitt: Tyrannei, S. 11-43)  Die Rede von den „Grundwerten“ enthält immer die Frage: „Wer interpretiert?“ - z.B. was Freiheit ist. Diese Frage „wird zur eigentlichen Machtfrage, und da jede Seite für sich in Anspruch nimmt, den wahren Freiheitsbegriff zu vertreten, gewinnen die hermeneutischen Auseinandersetzungen die Schärfe von Glaubenskämpfen.“ (Sepp Schelz, in: Tyrannei, S. 84)  Entscheidend wird der sein, der am ehesten die Begriffe besetzen kann, das sind immer noch die Vermögenden, weil sie die Mittel der Verbreitung wie Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen haben. Das Grundgesetz, das einmal gedacht war als „Hausordnung für alle Klassen“ (Wehner), wird qua Umdeutung als  Werteordnung zum willkürlichen Auslegeobjekt der besitzenden Klasse und ihrer Parteien. Zugleich ermöglicht diese Werteumdeutung des Grundgesetzes von „deutscher Leitkultur“ zu sprechen, um dem deutschen Spießer ungewohnte Lebensweisen als Feindbild hinstellen zu können. Wenn die „deutsche Leitkultur“ wertvoll ist, dann sind andere Kulturen von minderem Wert oder gar Unwert. Konsequent weiter gedacht, führt dies zur „Tyrannei der Werte“ (vgl. Schmitt: Tyrannei, S. 25 f. u. 36 f.).  Tatsächlich kommt in der Verfassung das Wort „Wert“ überhaupt nicht vor, es hat als willkürlicher, nicht objektivierbarer Terminus auch nichts in Rechtstexten zu suchen. Selbst ein so schillernder Begriff wie „sittenwidrig“ enthält etwas allgemein Bestimmbares im Gegensatz zu dem Kaugummiwort „Wert“.

 Eine weitere große Gefahr des Wortes liegt in seiner Anwendung auf die Erziehung von Kindern und Jugendlichen. Der  Pädagoge Siegfried Bernfeld hat in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts einmal Machiavelli als Kultusminister auftreten lassen, der eine Rede vor den Beamten, die seinem Erziehungsministerium unterstehen, hält. Der Machtmensch als Kultusminister fordert sein Publikum auf, Ideale in die jungen Köpfe der Schüler zu pflanzen, damit diese die soziale Wirklichkeit zwar nicht verstehen, wohl aber schönreden können. Solche Leute seien bestens als mittlere Führungskräfte geeignet. Der Autor dieser Satire war nicht ganz auf der Höhe der Philosophie seiner Zeit, sonst hätte er nicht nur einmal das Wort „Wert“ eingesetzt. Die Rede trifft im Wesentlichen noch heute die Absicht, die objektiv hinter manchen pädagogischen Vorschriften steht. Wenn sie ein wenig berichtigt würde, sie sähe dann so aus (stark gekürztes Stenogramm der Rede): „(...) Also die erste organisatorische Forderung ist: Trennung der bürgerlichen Jugend von der proletarischen. (...) Eine tüchtige Identifikation zeugt Hoffnungen, denen lebenslängliche Enttäuschungen nichts anhaben. (...) Unter Berücksichtigung des Prinzips der Jugendgemäßheit aller Erziehung ist die Pubertät, die idealistische Lebenszeit kat exochen, mit großen Werten (statt Worten!) zu füllen. Als solche werde ich vorschreiben: Vaterland – Kultur – Nation – Kultur – Wissenschaft – Kunst – Kultur – Volk – Deutsch (statt: Rasse) – Kultur. Die Lehrer werden beauftragt sein, zu glauben, daß dies die Maßstäbe und Werte (statt: Merkmale) des Fortschritts sind, und werden zu zeigen haben, daß die letzten Jahrhunderte eine Kette von glücklichen Entwicklungen sind, unterbrochen von kulturfeindlichen Revolutionen, die ja Kulturwerte (so wörtlich!) zerstört haben (...) Aber nur keine Pedanterie; glauben Sie ja nicht, daß wir irgendein Interesse daran haben, daß diese Jugend etwas über die Bedeutung von Werten (hinzugefügt) lerne. Sie dürfen nicht altmodisch sein (...) Wir haben die Aufgabe, unserer Jugend eine feste Werte-Ideologie zu geben. Die lernt man nicht. Sie bildet sich von selbst an den Annehmlichkeiten eines parasitären Lebens. Wir brauchen nur ein paar Stichworte zu geben, um den von selbst keimenden Werten (statt: Gedanken) die Autorität eines Kulturgutes zu verleihen.“ (Sisyphos, S. 98 ff.)

 Je mehr dieser Begriff im Munde von den Kapitalismus konservierenden Politikern von der FDP und CDU über die SPD bis zu den Grünen sich ausbreitet, um so mehr zieht sich selbst die bürgerliche Philosophie von diesem Terminus zurück. Es wird längst Zeit einmal den Ursprung des Begriffs nachzugehen. Joas jedenfalls, der ein Buch: „Die Entstehung der Werte“ (vgl. Literaturverzeichnis) geschrieben hat, erfüllt nicht das Versprechen, das im Titel liegt, sondern stochert nur soziologisch in Werttheorien herum, ohne auf den Ursprung des Begriffs einzugehen, ohne ihn der philosophischen Kritik zu unterziehen.

 Ich werde im Folgenden die Entstehung des Wertbegriffs aufzeigen, der auf den Philosophen Hermann Lotze zurückgeht. Dessen Philosophie ist eine Reaktion auf die verschwundenen Hoffnungen, die das bürgerliche Zeitalter bei seiner Entstehung begleiteten. Nach der großen Periode der bürgerlichen Philosophie von Kant bis Hegel verfielen deren Nachfolger mehr oder weniger dem Irrationalismus oder reduzierten das Denken auf Formalismen. Die Erfindung des Wert-Begriffs sollte eine Moral konservieren und erhöhen, die sich einerseits an den gesellschaftlichen Verhältnissen blamierte, andererseits in veränderter Form ein Antrieb der entstehenden antibürgerlichen Bewegung der Arbeiterklasse wurde.

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0.2.      Zum Begriff der Ideologie

Eine methodische Vorbemerkung

 Philosophie ist nicht nur ein Glasperlenspiel mit Begriffen oder Gedanken im Garten des Wissens für das höhere Bedürfnis von geistigen Flaneuren. Philosophie hatte und hat in der Gesellschaft eine Funktion. Die Muße, die Philosophen erlaubt, nachzudenken, wird letztlich von den Lohnabhängigen finanziert. Walter Benjamin sah deshalb selbst in den gelungenen Produkten der Kultur immer auch ein Moment der Barbarei. Aus diesem Gedanken folgt nicht, Philosophie und Kultur auf das geistige Niveau des Durchschnitts abzusenken, sondern die Verpflichtung, der Gesellschaft ein Selbstbewusstsein zu ermöglichen, dass die Bedingungen reflektiert, Herrschaft, die längst nicht mehr zur Kultur nötig ist, ein für alle Mal abzuschaffen.

 Eine Philosophie, die diese moralische Verpflichtung eingeht, ist immer auch Ideologiekritik an den Positionen, die Herrschaft legitimieren. Ich werde zeigen, dass Lotzes Begründung „moralischer Werte“ solch eine Ideologie ist. Da es bei der Interpretation der Wertphilosophie unterschiedliche Auffassungen über den Begriff der Ideologie im Zusammenhang mit der Philosophie gibt, ist es notwendig, diesen Begriff für diese Arbeit näher zu bestimmen.

 Ideologie wird von mir im Anschluss an Karl Marx als notwendig falsches Bewusstsein zur Herrschaftssicherung definiert. Wenn Hermann Lotze beispielsweise nach der Periode der Aufklärung das religiöse Bedürfnis von Menschen anthropologisch als einen menschlichen Wesenszug bestimmt (vgl. Mikrokosmos III, S. 333 f.), dann ist dies Ideologie. Es ist Bewusstsein, d.h. nicht einfach Lüge, denn dieses Bedürfnis ist im 19. Jahrhundert noch bei einer Mehrheit der Menschen feststellbar. Dieses religiöse Bedürfnis ist notwendig, nicht erkenntnistheoretisch, sondern soziologisch, weil Ökonomie, Staat, Sozietät und Kirche „eine verkehrte Welt sind“, so dass die Menschen nach einem allgemeinen „Trost- und Rechtfertigungsgrund“ verlangen. „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist Opium des Volks.“ (Marx: Einleitung, S. 378)  Das vernünftige Bewusstsein hat diesen Zusammenhang zwischen Ideologie und sozialer Wirklichkeit aufzuklären und nicht nur die Ideologie zu kritisieren, sondern auch eine soziale Wirklichkeit, die solche Ideologien zu ihrer Verschleierung benötigt. In dieser Form hat es Ideologie, wenn auch nicht unter diesem Namen, gegeben, seit es Herrschaft gibt. Die kapitalistische Produktionsweise bringt aber einen Typus von Ideologie hervor, der nicht einfach zur Rechtfertigung der Herrschaft von irgendwelchen Denkern erfunden oder aus der Tradition übernommen wird, sondern aus dieser Ökonomie selbst erwächst. Der Wert der Ware Arbeitskraft besteht in den Lebensmitteln, die sie auf dem jeweiligen durchschnittlichen Niveau der Kultur beanspruchen kann, so dass ihr Lohn, wenn er diesen Wert entspricht, als gerecht erscheint. Tatsächlich aber erzeugt die Arbeitskraft in ihrer produktiven Anwendung mehr Wert als sie dem Wertgesetz entsprechend kostet. Unter dem Schein des Äquivalententausches wird den Lohnabhängigen ein Nichtäquivalent abgenommen. Herrschaft ist nicht mehr sichtbar und durch die Kapitalkonzentration obendrein noch anonym geworden. Im Gegensatz zu dem Fronbauer, der seine Ausbeutung genau kannte, wenn er drei Tage für den Grundherrn und drei Tage auf seinem eigenen Land arbeitete, erscheint die Ausbeutung des Lohnarbeiters als ein „Eden der Menschenrechte“ (Marx). Lotze, der den kapitalistischen Zusammenhang von Arbeitskraft und ihrer Anwendung nicht durchschaut, transportiert die bürgerliche Ideologie als traditionelles Lehrgut in seiner Ethik. Gegen die Ansprüche der Arbeiter auf höhere Löhne, die immer eine Minderung des Gewinns darstellen, wendet er ein: „Ohne Zweifel gebührt dem Leiter einer Unternehmung, der die nötigen Mittel hergiebt und zugleich die Gefahr des Mißlingens allein trägt, ein Unternehmergewinn, mit dessen Wegfall die Lust zur Betriebsamkeit ebenfalls verschwinden würde.“ Ideologien dieser Art sind nur durch die exakte theoretische Analyse erkennbar.

 Aber Philosophie auf einem bestimmten theoretischen Niveau ist nicht einfach pauschal als Ideologie, vielleicht sogar als „imperialistische Ideologie“ zu bezeichnen, wie Georg Lukács dies in seinem Werk „Die Zerstörung der Vernunft“ macht: „Die Geschichte der Philosophie ist, ebenso die der Kunst und Literatur, nie –  wie ihre bürgerlichen Historiker meinen – eine Geschichte philosophischer Ideen oder gar Persönlichkeiten. Die Probleme und Lösungsrichtungen für die Philosophie werden von der Entwicklung der Produktivkräfte, von der gesellschaftlichen Entwicklung, von der Entfaltung der Klassenkämpfe gestellt. Die entscheidenden Grundlinien einer jeweiligen Philosophie können unmöglich anders als auf Grund der Erkenntnis dieser primären bewegenden Kräfte aufgedeckt werden. Wird der Versuch gemacht, die philosophischen Problemzusammenhänge von einer sogenannten immanenten Entwicklung der Philosophie aus zu stellen und zu lösen, so entsteht notwendig eine idealistische Verzerrung der wichtigsten Zusammenhänge, selbst dann, wenn bei den Historikern das notwendige Wissen, der subjektive gute Wille zur Objektivität vorhanden ist. Selbstverständlich ist die sogenannte geisteswissenschaftliche Einstellung diesem Standpunkt gegenüber kein Fortschritt, sondern ein Schritt nach rückwärts: der verzerrende ideologische Ausgangspunkt bleibt, nur ist er noch verschwommener, idealistisch verzerrender; man vergleiche nur Dilthey und seine Schule mit der philosophischen Historiografie der Hegelianer, etwa mit Erdmann.“ (Zerstörung, S. 9 f.)

 Dagegen wendet Herbert Schnädelbach zurecht ein, dass die Gesellschaft Philosophie zwar bedingt, aber nicht bestimmt. Philosophen reagieren nicht nur auf die Gesellschaft ihrer Zeit, sondern wesentlich auf die immanenten Probleme und den inneren Gang der Entwicklung ihrer Wissenschaft. Philosophie ist nicht einfach Widerspiegelung der ökonomischen und gesellschaftlichen Realität. Deshalb sind die einzelnen philosophischen Positionen hauptsächlich immanent und in ihrer historischen Entwicklung zu kritisieren. Gegen Adornos Kritik am Wertbegriff als „Verdinglichung“ wendet Schnädelbach ein, dass dies „noch keine philosophische Kritik der gesamten Problemstellung“ sei (Philosophie, S. 198), und an Lukács Buch kritisiert er, dass die mangelnde immanente Kritik zu „groben Verzeichnungen“ führe, „die dieses Werk weitgehend unbrauchbar macht“ (A.a.a., S. 289 f, Anm. 110).

Aber Schnädelbach erliegt selbst dem proton pseudos des Historismus, dessen unreflektierte Varianten er u.a. auch in der marxistischen Tradition kritisiert. „Das Resultat der historischen Aufklärung ist das historische Bewußtsein in dem doppelten Sinne, daß das gebildete Bewußtsein des Historischen sich zugleich selbst als etwas Historisches begreift; diese Reflexionsstruktur teilt es mit aufgeklärtem Bewußtsein überhaupt, denn von Aufklärung sprechen wir nur dort, wo das Wissen von der Welt zugleich auch dieses Wissen selbst mit betrifft.“ (Philosophie, S. 55)  Wenn das Bewusstsein des Historischen sich selbst zugleich als etwas Historisches bestimmt, dann muss man fragen, in welches Bewusstsein dieses historische Bewusstsein, sein Wandel und seine Gegenstände fallen. Hat das überdenkende Bewusstsein keine apriorischen Bestimmungen, steht es u.a. nicht unter der „Einheit der Apperzeption“ (Kant), dann könnte es die Abfolge der historischen Stufen des Bewusstseins, wie immer diese bestimmt werden sollen, gar nicht denken, das Bewusstsein zerfiele in so viele Teile wie es Gegenstände hätte. Es wäre letztlich weniger als ein Traum. Das alles historisierende Bewusstsein führt zwangsläufig wie bei Schnädelbach selbst in den skeptischen Relativismus: „Als Bewußtsein des Historischen und Bewußtsein seiner selbst als eines Historischen ordnet das historische Bewußtsein sich selbst in den Prozeß der Geschichte ein, von dem es nach der Historisierung der Geschichte nicht mehr sicher sein kann, daß er unseren jeweiligen Auffassungs- und Verstehensbedingungen kommensurabel ist. Historisches Bewußtsein ist damit zugleich Bewußtsein der eigenen Endlichkeit und begrenzten Autonomie gegenüber der Übermacht der Geschichte als Ganzer; so erklärt sich der skeptische, zum Relativismus neigende, ja häufig resignative Zug historischen Denkens (...)“ (ebda.).

 Tatsächlich ist selbst ein solch historischer Relativismus gar nicht denkbar ohne  ein Bewusstsein, das unter der apriorischen Einheit der Apperzeption, den Kategorien des Verstandes, den formalen Prinzipien der Vernunft und überhaupt der Logik steht. Wir würden gar nicht verstehen, was die Worte und Sätze eines bloß historischen Bewusstseins bedeuten. Die Historisierung des Apriorischen der Formen des Denkens, d.h. auch der Logik, muss jedes Denken zerstören, selbst isolierte Fakten könnten wir nicht mehr denken. Genau diesen Angriff auf die Vernunft macht aber eine bestimmte bürgerliche Philosophie nach Hegel, und ihr unterliegt auch partiell Schnädelbach, der den Weg dieser Philosophie kritisch reflektiert. (Schnädelbach denunziert auch mehr die apriorischen Formen der Vernunft, indem er auf Hegels idealistische Übersteigerungen der Vernunft im Allgemeinen hinweist, ohne auch nur eine logische Form, die er doch selbst benutzt, wirklich der Kritik zu unterziehen, vgl. Philosophie, S. 140 – 143.)  Der Titel von Lukács: „Die Zerstörung der Vernunft“, hat in der Kritik dieser Entwicklung seine Berechtigung, auch wenn er selbst von kritikwürdigen Positionen ausgeht.

 Lukács kritisiert durchaus auch immanent, dennoch hat der Vorwurf von Schnädelbach insofern seine Berechtigung, als Lukács tatsächlich in vielen Passagen kurzschlüssig philosophische Theoreme mit Klassenpositionen identifiziert und z.B. sein Widerspiegelungstheorem selbst der Kritik bedarf. Falsch scheint mir aber die Kritik von W.F.Haug an Lukács zu sein, wenn er ihn ins „Reich linker Metaphysik“ platziert und Vernunft in sozial bedingte Kämpfe auflöst. Haug wirft  Lukács vor, „einer Idealisierung der Philosophie, die er als ‚Vernunft’ substanzialisiert, aufzusitzen“. (Philosophen 1933, S. 14)  Dieses Leugnen von Metaphysik (nicht aus der Empirie ableitbarer Begriffe) ist selbst eine metaphysische Position, wie sie den Positivismus und Skeptizismus kennzeichnet. Sie verkennt, dass unser menschliches Denken nicht immer von Null anfängt, sondern einen Stand der Vernunft vorfindet, hinter den es nicht zurückfallen kann, ohne falsches Bewusstsein, evtl. sogar Ideologie, zu werden. Lukács Vorwurf an die bürgerliche Philosophie nach Hegels Tod war aber gerade der, dass sie hinter die Einsichten, die in der Periode von Kant bis Hegel gewonnen wurden, zurückfällt. Ob Vernunft etwas Substanzielles ist und zum Reich „linker Metaphysik“ zählt, müsste erst einmal immanent reflektiert werden, anstatt diesen Gedanken mit oberflächlichen Phänomenen wie dem empirischen Streit um den Inhalt der Vernunft zu denunzieren. (Außerdem unterstellt Haug durchgängig einen grundsätzlichen Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, was selbst schon ein Ideologem der bürgerlichen Philosophie ist.)

 In dieser Analyse der Wertphilosophie Lotzes werde ich, nach einer problemgeschichtlichen Einleitung, dieses Denken immanent kritisieren, nicht ohne auf die sozialen Implikationen der Theoreme hinzuweisen, denn es geht vorwiegend um praktische Philosophie, die argumentativ einen notwendigen Bezug zur sozialen Realität hat. Selbst in den abstraktesten Bestimmungen, etwa Lotzes Theologie, lassen sich soziale Implikationen aufzeigen. Anschließend werde ich auf die soziale Funktion von Lotzes Denken eingehen und das Ideologische daran zusammenhängend und auf der immanenten Auseinandersetzung basierend kritisieren. Was der Leser nicht erwarten kann, ist die bürokratische Kennzeichnung der Position Lotzes im Leninschen Sinne: hier ist er Idealist, dort Halbmaterialist und ähnliche Schlagwörter, obwohl sich allgemeine Bestimmungen wie z.B. die Kennzeichnung seines Denkens als teleologischer Idealismus nicht ganz vermeiden lassen. Auch werde ich nicht einfach Gedanken erzählen, sondern versuchen durchgängig die Begründungen  Lotzes aufzeigen, um sie mit Argumenten zu widerlegen.

 Diese Vorgehensweise hat Implikationen: Philosophie ist das Selbstbewusstsein der realen historischen Entwicklung. Wenn es gelungen und nicht bloß ideologisch ist, setzt es sich der scheinbaren Fatalität der historischen Bewegung entgegen, indem es autonom nach der immanenten Vernunft und Unvernunft des Geschichtsverlaufs und seiner Brüche fragt. Das vernünftige Selbstbewusstsein, wenn es autonom sein will, beruht auf dem historischen Stand der Erkenntnis, der nicht immer mit den vorherrschenden Philosophien oder der gängigen Interpretation in der Sekundärliteratur zusammenfällt, vor allem dann nicht, wenn diese selbst  im falschen Ganzen verhaftet sind. Die Beschäftigung mit der „philosophischen Philosophiegeschichte“ (Mensching: Allgemeine, S. 15) muss, will sie über sich selbst aufgeklärt sein, ebenfalls Geschichtsphilosophie sein. Soll eine solche Geschichtsphilosophie nicht apologetisch das Bestehende mit seinen Tendenzen zur möglichen Auslöschung der Menschheit rechtfertigen, dann muss sie an der Emanzipation von jenem „automatischen Subjekt“ Kapital (Marx) interessiert sein, das die Menschheit bisher von Katastrophe zu Katastrophe geführt hat.

 Eine solche emanzipatorische Perspektive auf Gegenstände der philosophischen Tradition steht in einem wechselseitigen Begründungsverhältnis zwischen den vergangenen Gestalten des Denkens und dem gegenwärtigen avancierten Bewusstsein. Wie dieses gegenwärtige Denken nicht begreifbar ist ohne seine Genesis aus früheren Gestalten, so ist eine vergangene Gestalt der Philosophie nicht einfach vorhanden, als ob sie nur detailgenau und objektiv reproduziert zu werden bräuchte, sondern erschließt sich erst aus der Perspektive gegenwärtiger Probleme. Ob sich diese wechselseitige Begründung und Kritik als schlüssig erweist, muss sich in dem notwendigen Gang der Argumentation selbst zeigen.

 Da das gegenwärtig vorherrschende philosophische Denkens und mit ihm der Mainstream des heutigen Bewusstseins überhaupt die Tendenz hat, sich selbst zu zerstören, kann die Beschäftigung mit einer Philosophie, die diese Selbstzerstörung mit eingeleitet hat, ein Selbstbewusstsein über diese Tendenz schaffen, die sie begreifbar macht und damit die Möglichkeit eröffnet, sie zu überwinden. Derart ist für die heutige Wertphilosophie die Genesis des Wertbegriffs bei Hermann Lotze eine notwendige Voraussetzung  ihres Verständnisses als Ideologie, die durch die Erkenntnis dieser Genesis kritisierbar wird. 

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Stand: 31. Mai 2005