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Editorial Aphorismen Moralphilosophie Rezensionen Glossar

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

                                                    

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

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Inhalt

3.       Die Funktion des Wertbegriffs bei Lotze

3.1.    Die allgemeine Problematik der Moralphilosophie 

           im  bürgerlichen Zeitalter und der Wertbegriff

3.2.    Moralischer und ökonomischer Wert

3.3.    Apologie des bürgerlichen Bewusstseins

3.4.    Ideologische Bedürfnisse

3.5.    Irrationalismus Lotzes

3.6.    Historische Bedingungen der Wertphilosophie

3.7.    Die Wirkung Lotzes auf die nachfolgende bürgerliche

           Philosophie

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        3.        Die Funktion des Wertbegriffs bei Lotze

           3.1.             Die allgemeine Problematik der Moralphilosophie 

                        im  bürgerlichen Zeitalter und der Wertbegriff

 Ich habe gezeigt, dass die bürgerliche Moral sich systematisch an der Realität blamiert. Unmoralisches Handeln aber ist immer Schädigung der davon Betroffenen, das war und ist bis heute der größte Teil der Bevölkerung: die Lohnabhängigen. Das bürgerliche Denken kann aber Moral nicht aufgeben, ohne die ideellen Existenzbedingungen der Herrschaft aufzugeben. Ihm bleibt nichts anderes übrig, als die Moral aus der Konkurrenzgesellschaft selbst zu nehmen, wie es der Utilitarismus macht, eine solche Moral ist aber nicht verallgemeinerbar. Oder sie überhöht die vernünftige Moral ins Unangreifbare, wo sie zwar gesichert scheint, aber auch wirkungslos für die von Unmoral Betroffenen ist. (Den Weg, die gesellschaftlichen Verhältnisse zu ändern, damit vernünftige Moral wieder lebbar wird, scheitert an den geistigen Klassenschranken der bürgerlichen Denker.) Lotzes Philosophie ist letztlich nichts anderes als der Versuch, die Moral zu überhöhen, um sie gegen die Zumutungen der Klassengesellschaft abzusichern.

 Nach dem Zusammenbruch des absoluten Idealismus Hegels tat sich eine große geistige Lücke auf. Das metaphysische Bedürfnis der Menschen wurde durch die Religion und die klassische Philosophie nicht mehr und durch die moderne Naturwissenschaft überhaupt nicht befriedigt. In diese Lücke stoßen Denker wie Herbart, Fechner und Lotze vor und weisen dem bürgerlich beschränkten Denken neue Wege. Eine der fruchtbarsten Wege war die Erfindung des „moralischen Werts“. Seine Irrationalität war den meisten nicht offensichtlich und er sprach mit dem Begriff des „Gemüths“ die unmittelbare Erfahrung an. Man konnte sich wieder als moralischer Mensch fühlen, ohne etwas Entscheidendes an den sozialen Verhältnissen, die überhaupt erst die Krise des Bewusstseins verursachten, ändern zu müssen.

 Die Kritik an der traditionellen Metaphysik platonischer oder aristotelischer Provenienz entzog den moralischen Bestimmungen ihre ontologische Absicherung im Seienden (vgl. Lotze: Ethik, S. 8) oder ihre theologische Legitimation. Am klarsten hat das Hobbes ausgesprochen. „Aber was auch immer das Objekt des Triebes oder Verlangens eines Menschen ist: Dieses Objekt nennt er für seinen Teil gut, das Objekt seines Hasses und seiner Abneigung böse und das seiner Verachtung verächtlich und belanglos. Denn die Wörter gut, böse und verächtlich werden immer in Beziehung zu der Person gebraucht, die sie benützt, denn es gibt nichts, das schlechthin und an sich so ist. Es gibt auch keine allgemeine Regel für Gut und Böse, die aus dem Wesen der Objekte selbst entnommen werden kann. Sie entstammt vielmehr dort, wo es keinen Staat gibt, der Person des Menschen, oder im Staat der Person, die ihn vertritt, oder aber einem Schiedsrichter oder Richter, den uneinige Menschen durch Übereinstimmung einsetzen und dessen Urteil sie zur Richtschnur machen.“ (Hobbes: Leviathan, S. 41)  Dies war zunächst eine große Befreiung, um der von Adel und Kirche bestimmten Moral eine bürgerliche entgegensetzen zu können. Ohne die Kritik der mittelalterlichen Weltauffassung wäre z.B.  so etwas wie eine „protestantische Ethik“, wie sie Max Weber als „Geist des Kapitalismus“ beschrieben hat, unmöglich gewesen.

 Dennoch hat vor allem der Rationalismus versucht die empiristische Subjektivierung der Ethik zu kritisieren und Moral erneut ontologisch zu fundieren. Spätestens nach Kants „Kritik der reinen Vernunft“ waren diese Versuche aber desavouiert. Die Kantische Lösung Moral zu bestimmen ist für Lotze nicht akzeptabel. Die Hoffnungen des Aufklärungszeitalters waren verflogen, Moral musste nach Lotze stärker abgesichert werden als durch einen aus der Form der Vernunft folgenden „Rigorismus“. „Eine völlig entgegengesetzte rigoristische Ansicht (Kant) will weder von absoluten Zwecken, noch von der Lust als Zweck wissen und behauptet, ein sittliches Gebot, das um seiner Würde willen notwendig für alle Menschen und für alle gleichartigen Anwendungsfälle gelten, also allgemein sein müsse, könne nur die Form des Handelns bestimmen, ohne alle Rücksicht auf die Objekte oder die Zwecke, auf die es sich bezieht.“ (Lotze: Ethik, S. 10)  Genau diese Rücksicht auf subjektive Zwecke aber will die Wertphilosophie rechtfertigen! Lotze muss aber wieder auf eine – wie oben gezeigt, nicht haltbare – ontologische und theologische Absicherung seiner moralischen Werte zurückgreifen, um die subjektive Willkür seiner Konstruktion zu verschleiern.

 Was er von moralischen Werten verlangt, gibt er auf den ersten Seiten seiner Ethik an. „Der Mangel an Übereinstimmung zwischen Verdienst und Glück, das Mißlingen unserer Entwürfe, die Reue und Selbstverurteilung unserer Fehler begründen das Verlangen einer sicheren Beantwortung der Frage: wie sollen wir handeln?“ (Ethik, S. 5)  Zu dieser sicheren Beantwortung gehören die absolute Geltung der „höchsten Ideale“, die nicht nur für den Menschen wären, sondern auch „für Gott und die Engel“, denn sonst würde „unserer ganze sittliche Überzeugung empfindlichen Schaden erleiden“ (a.a.O., S. 7). Abgesehen von dem Widerspruch, dass wir solche Geltung als Menschen gar nicht begründen können (vgl. Metaphysik, S. 182), heißt das aber nicht, die höchsten Werte aus Gott oder den durch ihn begründeten „höchsten Weltzweck“ ableiten zu können, da wir diesen nur in „lebendigen Ahnungen des Gemüts glauben können zu erfassen“, aber davon keinen genauen Begriff haben. Der „unbedingte Wert“, der „eine absolute und verpflichtende Würde“ haben muss, damit wir nach ihm handeln, muss „nicht nur unmittelbar klar, sondern auch vollständig gewiß sein“ (a.a.O., S. 8). Als moralische Bestimmung mit sittlicher Verpflichtung müsse diese „nicht nur an sich, sondern auch für uns einen unbedingten Wert“ haben.

 Alle diese Anforderungen erfüllt scheinbar der Begriff des Wertes. Schon der sprachliche Ausdruck erhöht den moralischen Begriff, den das Gemüt oder Gewissen Wert zuspricht, in eine abgehobene Sphäre. Dennoch bleibt uns der moralische Wert nahe, da er ja auf der Lust des Gemüts beruht, also direkt mit unserem Gefühl verbunden ist. „In Bezug nun auf das Verhalten zu diesen Motiven verlangt zuerst das Gewissen, daß man überhaupt für sie reizbar sein solle, so daß nicht bloß verstandesmäßig Wert oder Unwert einer Handlung anerkannt, sondern auch ein wirkliches Gefühl der Billigung und Mißbilligung zum Entscheidungsgrund für das Handeln werde. Wärme des Herzens ist daher allein löblich und jede Gleichgültigkeit zu tadeln, nicht bloß die, welche aus Stumpfsinn oder Blasiertheit hervorgeht, sondern auch die maschinenmäßige Pflichttreue, die man zuweilen mit Ablehnung jedes Gemütsanteils als die eigentliche Sittlichkeit gepriesen hat (Kant).“ (Ethik, S. 14 f.)  Abgesehen von dieser Missdeutung Kants, immerhin hat Kant eine Didaktik des Moralgesetzes entworfen, gelten trotz der subjektiven Fundierung nach Lotze moralische Werte absolut, d.h. sie sind „wirklich“, weil sie aus der Substanzialität der Seele begründet sind.

 Lotze thematisiert an vielen Stellen seines Werks die unterschiedliche Sozialisation und Reife der Menschen (z.B. seine Argumentation gegen die Demokratie, in: Ethik, S. 79 f.). Von dieser empirischen Einsicht wäre es nur ein kleiner Schritt zu dem Gedanken, die Relativität der aus dem Gewissen oder der Lust des Gemüts bestimmten moralischen Ideen zuzugestehen, wie es z.B. Mandeville mit moralischen Bestimmungen allgemein gemacht hatte. Doch die ganze Konstruktion seiner Philosophie läuft darauf hinaus, gerade diese Relativierung zu verhindern – für den Preis irrationaler Begründung. Tatsächlich ist Lotze ein Bürger in einer Zeit, in der seine Gesellschaft in Legitimationsschwierigkeiten kommt, weil ihre Hoffnungen gescheitert sind. Er spreizt deshalb seine historisch besondere Sozialisation zur ontologischen Substanz auf. Dann ist es einfach sich aus der Philosophiegeschichte eklektisch die Theoreme herauszuholen, die seinem Bedürfnis nach Absicherung von Werten dienen, ohne groß auf ihre Stimmigkeit und Beweisbarkeit achten zu müssen.

 Der entscheidende argumentative Trick von Lotze ist also, die Moral in den Subjekten, sogar in der Lust und Unlust zu verankern, und sie trotzdem metaphysisch abzusichern. Dies hatte den Vorteil, sie nicht als abgehobene Vernunftmoral zu bestimmen, die immer unter der Schwierigkeit leidet, sie in den moralischen Subjekten zu verankern. Für Lotze sah es so aus, als ob Kants „Rigorismus“ an diesem Problem und nicht an den gesellschaftlichen Verhältnissen gescheitert war. Zugleich scheint Lotze dem platten Utilitarismus Benthamscher Prägung zu umgehen, indem er seine Werte als objektiv ontologisch und letztlich theologisch verankert. Doch im Widerspruch dazu gibt er zu, seine Philosophie aus den Bedürfnissen seiner Zeit, also Interesse geleitet und damit subjektiv, konstruiert zu haben (vgl. 3.4.).

 Die Scheinargumentation Lotzes hat aber eine bewusst gewollte Pointe: Wenn die wahren moralischen Werte nur aus dem Gemüt des gebildeten, geistig höher stehenden Bürgers, jedenfalls von Menschen, die zur „Aristokratie des Geistes“ gehören, stammen können, dann wird der logischen Implikation des Wortes „Wert“ entsprechend der geistig weniger Gebildete abgewertet. Die eine Gruppe ist zur geistigen Führung bestimmt, daraus folgend auch zur politischen Führung des Staates, die andere Gruppe zum Hören der Werte und zum Gehorchen gegenüber der Elite. Die eine Gruppe kann sich ihrer materiellen Möglichkeit entsprechend Muße und Bildung leisten, die andere hat zu dienen, damit den Gebildeten ihre Muße finanziert werden kann. Die Bürgerlichen besitzen die Werte als Eigentum, die anderen müssen sie für den Eigentümer erarbeiten. Der moralische Wert verwandelt sich unter der Hand zum ökonomischen Wert – oder genauer: Er zeigt sein wahres Gesicht.

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3.2.            Moralischer und ökonomischer Wert

 Lotze übernimmt den Begriff „Wert“ aus der Ökonomie, weil er für ihn dort anscheinend positive Konotationen hat. Über den Wert eines Lohnarbeiters hat er die „Einsicht, daß niemals die Arbeit eines Menschen einen anderen Lohn empfangen wird, als den, der ihrem Wert entspricht; und zwar ist unter diesem Wert allemal nur derjenige zu verstehen, den sie in den Augen der mitlebenden Gesellschaft besitzt, gleichviel ob diese ihn richtig anerkennt oder seine Bedeutung verkennt. Was aber der Mensch außer dem Produkt seiner Arbeit ist oder selbst wert ist, das entzieht sich jeder offiziellen Schätzung und kann daher auch niemals Gegenstand eines Lohnes sein.“ (Ethik, S. 63)  Die letzte Aussage erinnert an die Kantische Bestimmung des Menschen als absoluten Wert. Lotze benutzt aber nicht den Begriff „absolut“, da dieser nur dem geistigen Weltgrund gebühre, nicht dem menschlichen Individuum, sondern verneint nur die Bewertung des Menschen als Individuum mittels der Geldform. Der ökonomische Wert der Arbeitskraft werde gebildet durch die Anerkennung in der Gesellschaft. Dahinter steht die sogenannte Grenznutzentheorie, nach der Angebot und Nachfrage den Wert bestimmen solle. „Der Wert der Dinge besteht bloß in der Beziehung auf unsere Bedürfnisse.“ (Condillac, zitiert nach Marx: Kapital, S. 137)  Lotze fällt damit hinter die klassische Werttheorie etwa von Adam Smith oder David Ricardo zurück, die wie später auch Marx die Arbeitswertlehre vertreten. Aber nur diese falsche Theorie passt mit seiner moralischen Wertlehre zusammen. Der Fehler dieser „Grenznutzentheorie“ besteht darin, dass es keine Bestimmung des Wertes geben kann, wenn Nachfrage und Bedarf sich decken, es sei denn, man greift auf so nebulöse Formulierungen zurück, wie Lotze es tut: Der Wert bilde sich „in den Augen der mitlebenden Gesellschaft“.

 Was sich aber bestenfalls von der Gesellschaft bestimmen lässt, ist der Gebrauchswert, d.h. die „Nützlichkeit eines Dings“ (Kapital, S. 50), nicht aber ihr Tauschwert, der ein gesellschaftliches Verhältnis ausdrückt, oder anschaulicher, eine Durchschnittsgröße ist, die von den verschiedenen Betrieben mit verschiedenen Produktivkräften abhängt, die miteinander konkurrieren. Da die Grenznutzentheorie diese beiden Bestimmungen der Ware nicht unterscheidet, lauert dahinter „meist ein Quidproquo, eine Verwechslung von Gebrauchswert und Tauschwert“ (Kapital, S. 173). Indem nun Lotze den Wert der Arbeitskraft mit dem Lohn identifiziert, kann er nur den Tauschwert in Gestalt der Geldform meinen. Nun lässt sich aber der Wert als Geld nur ausdrücken in der konkreten Gestalt des Gebrauchswertes. Der Arbeiter Lotzes schätzt den Wert seines Talers, den er verdient, an der Menge von Brot, Schnaps und der anderen Gebrauchsgüter, die er dafür kaufen kann. Der Wert des Lohnes (und allgemein des Geldes) lässt sich nur in der Naturalform bzw. im Gebrauchswert anderer Waren ausdrücken. Ein gesellschaftliches Verhältnis verdinglicht sich in konkreten Dingen.

 Ebenso der moralische Begriff des Wertes. Obwohl er eine subjektive Setzung Lotzes ist, wird er als etwas ausgegeben, das „wirklich gilt“, also aller Subjektivität vorgeordnet, also objektiv ist, also die Subjektivität verdinglicht in der schlechten Bedeutung, dass die subjektiven Kräfte sich von ihrem Subjekt entfremden und ihm als objektive Wirklichkeit gegenübertreten und beherrschen. Wenn Lotze also den Begriff „Wert“ aus der kapitalistischen Ökonomie übernimmt und auf moralische Bestimmungen anwendet, übernimmt er auch die Verdinglichung, die darin enthalten ist. (So schon Adorno! Vgl. Positivismusstreit, S. 138)

 „Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eignen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als gesellschaftliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen. Durch dies Quidproquo werden die Arbeitsprodukte Waren, sinnlich übersinnliche oder gesellschaftliche Dinge.“ (Kapital, S. 96)  Die Folge dieses Quidproquo ist die schlechte Verdinglichung der menschlichen Beziehungen, die im Wert verkörpert ist. Den Produzenten „erscheinen daher die gesellschaftlichen Beziehungen ihrer Privatarbeiten als das was sie sind, d.h. nicht als unmittelbar gesellschaftliche Verhältnisse der Personen in ihren Arbeiten selbst, sondern vielmehr als sachliche Verhältnisse der Personen und gesellschaftliche Verhältnisse der Sachen.“ (Kapital, S. 87)  Die Übernahme des Wertbegriffs aus der Ökonomie ist also keine Erhöhung der damit bedachten Begriffe und Ideen, sonder deren Verdinglichung. Und tatsächlich erscheinen die moralischen Bestimmungen bei Lotze, die zu den ideellen Existenzbedingungen der herrschenden Klasse gehören, also soziale Bestimmungen sind, als Ausdruck seines ontologisch abgesicherten Gewissens oder Gemüts, d.h. gesellschaftliche und historische Bestimmungen erscheinen als Ausdruck einer überzeitlichen und ontologisch gedachten Substanz, die sogar noch göttlich abgesichert ist, also einem Fetischismus aufsitzt.

 „Dagegen hat die Warenform und das Wertverhältnis der Arbeitsprodukte, worin sie sich darstellt, mit ihrer physischen Natur und den daraus entspringenden dinglichen Beziehungen absolut nichts zu schaffen. Es ist nur das bestimmte gesellschaftliche Verhältnis der Menschen selbst, welches hier für sie die phantasmagorische Form eines Verhältnisses von Dingen annimmt. Um daher eine Analogie zu finden, müssen wir in die Nebelregionen der religiösen Welt flüchten. Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eignem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus, der den Arbeitsprodukten anklebt, sobald sie als Waren produziert werden, und der daher von der Warenproduktion unzertrennlich ist.“ (Kapital, S. 86 f.)  So in der Geisteswelt die Produkte des Gemüts, die mit eigenem Leben begabte Werte, die als selbstständige ontologisierte Wesen dem Individuum gegenüber treten, indem sie ihren wahren Zweck (Ideologie) verschleiern. Dies nenne ich den Fetischismus der Werte. Von Anfang an haften die Verdinglichung gesellschaftlicher Bestimmungen und ihre Fetischisierung dem Wertbegriff Lotzes und dann den folgenden Werttheorien an.

 Selbst die religiöse Überhöhung fehlt nicht. Wenn schon das sittliche Handeln nicht im Diesseits belohnt wird, dann wenigstens im Jenseits: „Müssen wir also die Erzeugung von Gütern als den letzten Zweck alles Handelns betrachten, so haben wir auch keinen Grund, über die Seligkeit zu spotten, welche z.B. das Christentum ganz ausdrücklich als das Ziel der Sittlichkeit ausspricht.“ (Ethik, S. 20)  Werte zu befolgen wird immer belohnt. Der später gemachte Versuch der philosophischen Werttheorie, die Verdinglichung, die diesem Begriff anhaftet, zurückzunehmen und den moralischen Wert allein in den Subjekten zu verankern, scheitert daran, dass solche subjektbezogenen  Werte keine Objektivität beanspruchen können, also moralisch unverbindlich für die Gesellschaft sind. Die subjektive Werttheorie läuft auf den Dezisionismus hinaus, die objektive ist eine Verdinglichung des Subjektiven.

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3.3.      Apologie des bürgerlichen Bewusstseins

 Lotze will die scheinbar festen metaphysischen Positionen der Frühneuzeit, vor allem Leibnizens, übernehmen für seine philosophische Konstruktion. Dafür adaptiert er die Leibnizsche Metaphysik der Monade zur Erklärung dessen, was sein Begriff der Seele ist. (Siehe auch unter 2.4.3.)

 In Analogie zu dieser Konstruktion erscheint dann die ganze Welt mit ihren Urgrund als Zentralmonade und den einzelnen Monaden, die von ihr abhängen. Seine gesamte Ontologie, die eine monistische Einheit des Seins behauptet, ist auf seine Werttheorie hin konstruiert. Insofern geht er über Leibniz hinaus, der seine Konstruktion als Antwort auf die philosophietheoretischen  Probleme seiner Zeit fand. Lotze sagt: „gegeben ist uns nun das Werden und wir können es aus der Welt nicht hinwegleugnen; nicht als ruhende Identität mit sich, sondern nur als ewige sich selbst erhaltende Bewegung ist daher das gegebene Sein des wahrhaften Seienden anzuerkennen, und als gegeben auch die Richtung, in der seine Bewegung erfolgt.“ (Metaphysik, S. 164)  Dieser „Monismus“, der zu seinem Attribut die Bewegung hat, ist mit der Werttheorie Lotzes verbunden. „Diese Ausdrucksweisen verrathen, daß zu den metaphysischen Gründen, welche zu der Ueberzeugung von der Einheit des Seienden führten, ästhetische Neigungen sich zugesellt haben, die zugleich ein Vorurtheil (d.i. vorläufiges Urteil, B.G.) über die concrete Natur Dessen abgaben, was an diese höchste Stelle der Welt zu setzen sei: nicht die bloße Form des Lebens und der Thätigkeit, sondern den Werth beider und das Glück, das wir in ihrem Genusse empfinden, suchte man in vorzüglicher Herrlichkeit dem Grund aller Dinge zuzueignen.“ (Metaphysik, S. 164) Damit sind die Richtung des Seins und die Werte des Menschen durch die Zentralmonade, dem Weltgrund oder Urgrund, vorgegeben.

 Die Apologie und Restauration bereits theoretisch überwundener Positionen setzt aber einen dialektischen Diskussionsprozess in Gang, der das Verteidigte endgültig zerstört. Hatte Kant jede Art Ontologie als Hypostase von menschlichen Gedanken kritisiert, so verfehlt Leibniz Monadenlehre schon seiner Form wegen den Anspruch wissenschaftlicher Philosophie. (Was aber keine entscheidende Aussage über die Bedeutung Leibnizens für die Entwicklung des philosophischen Denkens bedeuten soll.)  Hegel kritisiert an Leibniz: „Gedanken, die übrigens ohne Konsequenz des Begriffs im ganzen erzählweise vorgetragen werden. Leibnizens Gedanken zeigen für sich genommen in ihrem Zusammenhange keine Notwendigkeit; seine Philosophie sieht aus wie Behauptungen, die er macht und die aufeinander folgen. Seine Behauptungen erscheinen als willkürliche Vorstellungen, ein metaphysischer Roman“. (Hegel: Werke 20, S. 238)  Noch mehr gilt dies für Lotze.

 Eine überholte Gestalt der Ontologie zur Rechtfertigung der Werttheorie zu benutzen, verfällt nicht nur sofort der Kritik, sie muss auch das durch sie Begründete zerstören. Wenn die menschliche Seele keine substanzielle Monade ist, die Teil der prästabilierten Harmonie der absoluten Monade sein soll, weil diese Konstruktion der offensichtlichen Kritik als unbegründbare Hypothese verfällt, dann haben die von ihr gesetzten Werte keine Verbindlichkeit, sie sind nur subjektive Vorlieben, bestenfalls die Präferenzen eines philosophierenden Edelspießers. Was also die Apologie überholter ontologischer Positionen zwecks Begründung von Werten bewirkt, ist nicht deren Verteidigung, sondern das Gegenteil, sie befördert den Nihilismus. Das hat für die bürgerliche Wertphilosophie ein Außenseiter der philosophischen Zunft und jüngerer Zeitgenosse Lotzes erkannt, nämlich Nietzsche: „Der Grundglaube der Metaphysiker ist der Glaube an die Gegensätze der Werthe. Es ist auch den Vorsichtigen unter ihnen nicht eingefallen, hier an der Schwelle bereits zu zweifeln, wo es doch am nöthigsten war: selbst wenn sie sich gelobt hatten ‚de omnibus dubitandum’. Man darf nämlich zweifeln, erstens, ob es Gegensätze überhaupt giebt, und zweitens, ob jene volkstümlichen Werthschätzungen und Werth-Gegensätze, auf welche die Metaphysiker ihr Siegel gedrückt haben, nicht vielleicht nur Vordergrunds-Schätzungen sind, nur vorläufige Perspektiven, vielleicht noch dazu aus einem Winkel heraus, vielleicht von Unten hinauf, Frosch-Perspektiven gleichsam, um einen Ausdruck zu borgen, der den Malern geläufig ist? Bei allem Werthe, der dem Wahren, dem Wahrhaftigen, dem Selbstlosen zukommen mag: es wäre möglich, dass dem Scheine, dem Willen zur Täuschung, dem Eigennutz und der Begierde ein für alles Leben höherer und grundsätzlicherer Werth zugeschrieben werden müsste. Es wäre sogar noch möglich, dass was den Werth jener guten und verehrten  Dinge ausmacht, gerade darin bestünde, mit jenen schlimmen, scheinbar entgegengesetzten Dingen auf verfängliche Weise verwandt, verknüpft, verhäkelt, vielleicht gar wesensgleich zu sein.“ (Nietzsche: Jenseits, S. 8 f. (2. Aphorismus))  Diese Kritik, die sich bei Nietzsche nicht nur gegen Lotze richtet, sondern gegen die gesamte Geschichte der Moralphilsophie, deren Verstrickungen mit Herrschaft er an anderer Stelle betont, kann nur zu einem Immoralismus und Nihilismus führen. Dass Nietzsche in seinen Schriften den anscheinend in der Philosophie in Mode  kommenden Wertbegriff übernimmt und auf die gesamte Geschichte des Denkens anwendet, sei nur am Rande erwähnt.  Der irrationale Bezugspunkt Nietzsches, „für das Leben“, d.h. für die Konkurrenz in der Klassengesellschaft zu argumentieren, macht seine Perspektive, aus der er durchaus richtigen Einsichten gewinnt, nicht akzeptabel. Nihilismus und Immoralismus folgen aber notwendig aus der ideologischen Apologie einer Moral, die sich täglich an der sozialen Realität blamiert. Diesen Nihilismus beschreibt Nietzsche im Nachlass so:

 „Was bedeutet Nihilismus? – Daß die obersten Werte sich entwerten. Es fehlt das Ziel. Es fehlt die Antwort auf das ‚Wozu?’. 

Der Nihilismus stellt einen pathologischen Zwischenzustand dar (- pathologisch ist die ungeheure Verallgemeinerung, der Schluß auf  gar keinen Sinn -): sei es, daß die produktiven Kräfte noch nicht stark genug sind, - sei es, daß die décadence noch zögert und ihre Hilfsmittel noch nicht erfunden hat.

Voraussetzung dieser Hypothese: - Daß es keine Wahrheit gibt; daß es keine absolute Beschaffenheit der Dinge, kein ‚Ding an sich’ gibt. – Dies ist selbst nur Nihilismus, und zwar der extremste. Er legt den Wert der Dinge gerade dahinein, daß diesen Werten keine Realität entspricht und entsprach, sondern daß sie nur ein Symptom von Kraft auf seiten der Wert-Ansetzer sind, eine Simplifikation zum Zweck des Lebens.“  (Nietzsche: Nachlass III, S. 556)

    

Nietzsche geistig umnachtet.

 Auch hier ist sein Irrationalismus als Lebensphilosoph erkennbar in der Formulierung „Simplifizierung zum Zwecke des Lebens“ (siehe dazu unten 4.). Nichtsdestotrotz ist der Nihilismus eine zwangsläufige theoretische Konsequenz irrationaler Wertphilosophie. Das bürgerliche Denken geht bei Nietzsche über in eine offene, wenn auch abstrakte Legitimation der Klassenherrschaft bis hin zur Rechtfertigung der Barbarei: „Eine höhere Kultur kann allein dort entstehen, wo es zwei unterschiedene Kasten der Gesellschaft gibt: die der Arbeitenden und die der Müßigen, zu wahrer Muße Befähigten; oder, mit stärkerem Ausdruck: die Kaste der Zwangs-Arbeit und die Kaste der Frei-Arbeit.“ (Zitiert nach Lukács: Zerstörung, S. 292)  Lotze dagegen, der noch an einer allgemeinen Gültigkeit seiner positiven „Werte“ festhält, bereitet durch seine Ethik auf illusionärer und irrationaler Grundlage die brutale Variante der Ethik bei Nietzsche vor. Die dogmatische Behauptung von Werten muss unter den Bedingungen der Wissenschaftsfreiheit umschlagen in ihr Gegenteil. Moral, die notwendig für ein friedliches Zusammenleben der Menschen ist, zu retten, kann weder in ihrer abstrakten Negation wie bei Nietzsche noch in ihrer ideologischen Apologie wie bei Lotze bestehen, sondern allein in ihrem Aufgehobensein in einer verändernden Praxis. (Vgl. Gaßmann: Widerstand, S. 129 ff.)

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3.4.            Ideologische Bedürfnisse

 Was ein eklektisches Philosophieren zusammenhält, ist nicht ein geistiges oder ontologisches Prinzip, kein rationaler Gedanke, den es zu explizieren gilt oder gar die Arbeit an der Entwicklung des Begriffs, sondern ein theoretisches Bedürfnis. Schnädelbach charakterisiert Lotze so: „Lotze ist wohl der erste Metaphysiker des ‚metaphysischen Bedürfnisses’, d.h. der Suche nach einer metaphysischen Ergänzung der modernen, keiner Philosophie mehr zu bedürfenden scheinenden, wissenschaftlichen Weltinterpretation. Sein werttheoretischer Idealismus tritt nicht mehr als Antwort auf innerwissenschaftliche Probleme auf, sondern versucht, Bedürfnisse des ‚Gemüts’ zu befriedigen, die von den Wissenschaften ignoriert werden.“ (Philosophie, S. 215)  Bei Lotze ist dieses Bedürfnis offen ideologisch. Den Zweck der Philosophie gibt Lotze so an: „Allerdings gilt uns Philosophie von allem Anfang an nur für eine innerliche Bewegung des menschlichen Geistes, in dessen Geschichte sie allein auch die ihrige hat; für eine Bestrebung, innerhalb der vorausgesetzten uns selbst eben unbekannten Schranken, welche uns unser irdisches Dasein zieht, eine in sich zusammenstimmende Ansicht der Welt zu gewinnen, die uns über die Noth des Lebens hinweghilft und uns werthvolle Ziele in ihm zu stellen und zu erreichen lehrt; eine absolute Wahrheit, welche den Erzengeln im Himmel imponieren müßte, ist nicht der Zweck, dessen Verfehlung unsere Bemühungen völlig werthlos machte.“ (Metaphysik, S. 182) 

 Nimmt man diese Aussagen Ernst, dann geht es in der Philosophie gar nicht mehr um Wahrheit, sondern die Rechtfertigung und Ausgestaltung der geistigen Bedürfnisse, d.h. bei Lotze der seiner Situation als Bürger im zurückgebliebenen Deutschland. Bestand der Weltbegriff der Philosophie bei Kant noch darin qua Vernunft die letzten Zwecke des menschlichen Handelns zu bestimmen, so sind bei Lotze diese Zwecke irrational vorgegeben in den nicht weiter hinterfragten Bedürfnissen seine Klasse, in der „Noth des Lebens“. „Als ich vor mehreren Decenien eine noch unvollkommnere Darstellung wagte, schloß ich sie mit der Aeußerung, der wahre Anfang der Metaphysik liege in der Ethik. Ich gebe das Unzutreffende dieses Ausdruckes Preis; aber noch immer bin ich der Ueberzeugung, auf dem rechten Wege zu sein, wenn ich in Dem, was sein soll, den Grund dessen suche, was ist.“ (Metaphysik, S. 604)  Hier gibt Lotze offen zu, dass er nicht nur die Konstruktionsprinzipien seiner philosophischen „Weltanschauung“, sondern auch die Tatsachen und die Wirklichkeit so hinbiegen will, dass sie sein ideologisches Bedürfnis befriedigen – entgegen seiner Behauptung, „die Metaphysik hat nicht die Wirklichkeit zu machen, sondern sie anzuerkennen“ (Metaphysik, S. 163)  Was aber sein soll, ist die Rechtfertigung der bestehenden Ordnung. Seinen göttlichen Seinsgrund lässt er den Sinn der Welt vorgeben. „(...) der Sinn der Welt ist das Erste und ist nicht nur Das, was jener Ordnung sich unterwarf, vielmehr aus ihm allein rührt das Bedürfnis der Ordnung und die Gestalt her, in welcher sie verwirklicht ist.“ (Metaphysik, S. 603 f.) 

 Ein wesentliches Bedürfnis ist ihm, das Christentum bis ins einzelne Dogmatische hinein vor den atheistischen Anfeindungen zu retten (siehe auch „Teleologischer Idealismus“). Indem er aber seine Werttheorie in Verbindung mit der christlichen Theologie bringt, untergräbt er selbst dieses religiöse Vorstellungsgebäude. Auch wenn wir keinen christlichen Standpunkt vertreten, so ist doch die folgende Argumentation von Jüngel mit NicolaiHartmann einleuchtend: Ontologisch fundierte Wertgebung bedeutet immer auch Abwertung, nach der christlichen Vorstellung sind aber „alle Werke des Schöpfers gut“, was den theoretisch fundierten Abwertungen widerspricht. Die Werttheorie soll explizit eine Ethik sein, eine Sollensethik steht aber quer zur christlichen Gnadenlehre, jedenfalls  wenn man Luthers Theologie zu Grunde legt. Hat Jesus Tod die Gläubigen von den Sünden befreit, dann kann „das christliche Ethos keine Orientierung an einer Wertethik“ kennen. „Wird die Existenz in der Liebe als eine Folge des Lebens aus der Wahrheit verstanden, die den schuldigen Menschen frei macht, dann ist mit diesem Verständnis eine wertethische Orientierung ausgeschlossen. Wertethisches Denken kann die Rechtfertigung des Sünders und also die von Schuld befreiende Wahrheit schlechterdings nicht denken. Nicolai Hartmann urteilt: ‚Schuld besteht notwendig solange fort, als Werte bestehen, die sie verdammen... Schuldabnahme ist ... ethisch falsch, verkehrt; sie ist nicht ein solches, das der Mensch wollen darf und als sittliches Wesen wollen kann. Sie wäre, selbst wenn sie möglich wäre – und sei es selbst durch göttliche Gnade – ein Übel’“ (Jüngel, in: Tyrannei, S. 68)  Auch hier zeigt sich wieder, dass eine Apologie von theoretisch widerlegten Vorstellungen, in diesem Fall theologischen, indem sie mit einer neuen Theorie fundiert werden, die nichts Rationales enthält, diese Vorstellungen eher weiter untergräbt, als sie zu stützen.

 Was Lotze konkret-politisch unter der göttlich legitimierten Ordnung versteht, hat er in seiner Ethik dargestellt. „Von größerer Wichtigkeit für uns ist die Frage, wie man dann, wenn der Staat in Bewegung ist, d.h. wenn neue Lagen und Bedürfnisse neue Einrichtungen nötig machen, die Einführung des Neuen ohne Störung der Ordnung bewerkstelligen kann.“  (Ethik, S. 81) Entgegen dem Stand der Demokratisierung seiner Zeit – die es Ansatzweise auch in der verspäteten Nation Deutschland gab, fordert Lotze die „aktiven Staatsbürgerrechte“ (Wahlrecht) auf bewährte und befähigte Kräfte, das sind für ihn Bürgerliche oder Adlige, zu beschränken und einen „korporativen Geist“ zugrunde zu legen. Aus dieser reaktionären Position ist die Wertphilosophie entstanden. Sie ist das, was Haug „Herrschaftsunmittelbarkeit der Philosophie“ (Haug: Philosophie, S. 9) nennt.

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3.5.            Der Irrationalismus Lotzes

 Gefühle, die individuell sind, kann man beschreiben, Wahrnehmungen von einem Gegenstand kann man zu einer Erfahrung zusammenfassen, Erfahrungen als Zusammenfassung von Wahrnehmungen kann man zu einem Begriff synthetisieren und schließlich Ideen (reine Begriffe) kann man als Bedingungen der Möglichkeit wahrer Wissenschaft erschließen. Auch Zukünftiges kann man vermuten, indem man auf die Ursachen des Antizipierten reflektiert. Aber über das, was weder unseren Sinnen noch unserem Denken zugänglich ist, kann man keine Aussagen machen. Macht man dennoch darüber Aussagen, überschreitet man die Grenze unseres Erkenntnisvermögens und wird irrational.

 Rationale Rede ist nur über die Grenzen unserer Erkenntnisse möglich, jede positive Rede, die dieser Grenze überschreitet, tendiert zum Irrationalen. Allerdings ist nicht jeder falsche Gedanke oder jede falsche Philosophie irrational, denn das Falsche trägt notwendig zur Wahrheitsfindung bei (vgl. Hegel: Phänomenologie, S. 40 f.). Eine kritiklose Übernahme überwundener, d.h. der Kritik verfallener, Positionen (Apologie) dagegen tendiert ebenfalls zum Irrationalen.

 Durch die Trennung von erkennendem Subjekt und erkanntem Objekt gelang es dem Menschen, sich im Bewusstsein von den Naturzusammenhang, dem er als Körper verhaftet ist, zu lösen, und dadurch die Natur partiell zu beherrschen. Aus der Natur, die dem Bewusstsein zunächst als eine chaotische Mannigfaltigkeit erscheint, werden bestimmte Zusammenhänge isoliert, um sie als Ursache-Wirkungs-Relation beliebig reproduzieren zu können. (Bacon)  Das Bewusstsein kann aber nur solche Vorgänge erkennen und sich unterwerfen, die im Objekt selbst angelegt sind. Überlässt sich das Bewusstsein der chaotischen Mannigfaltigkeit, dann erscheint es selbst als beliebige Vielfalt, es wäre in sich widersprüchlich und könnte keine reproduzierbaren Zusammenhänge erkennen. Die Natur wäre nicht partiell beherrschbar. Die Not zu überleben wäre nicht aufhebbar, sondern bliebe Schicksal. Das noch nicht Erkannte, aber der Möglichkeit nach Erkennbare, ist zunächst für uns irrational. Es ist ein blindes Schicksal für die Menschheit – und die Aufgabe der Einzelwissenschaften und der Philosophie ist es, dieses zunächst Irrationale mittels der Vernunft zu erfassen, damit es uns nicht als unbeherrschbares Fatum widerfährt.

 Die partielle Naturbeherrschung einschließlich der eigenen Natur des Menschen wie die bewusste Kontrolle seiner sozialen Beziehungen, die untrennbar mit der Produktion und Reproduktion des Menschen verbunden ist, zwingt ihn auf die Einheit des Bewusstseins zu insistieren. Das ist das Ergebnis der Kantischen Vernunftkritik. Die Erkenntnis von Naturzusammenhängen kann aber nicht von vornherein unter der Bedingung der Einheit der Apperzeption stehen, sondern dies soll erst das Ergebnis der produktiven Einbildungskraft werden. Insofern ist das Irrationale als noch nicht Erkanntes der Rationalität als eines ihrer konstituierenden Momente vorausgesetzt. Dies nutzt der Irrationalismus aus und verabsolutiert es.

 In dieser Bedeutung bestimmt auch Lukács den Begriff des Irrationalismus. Dieser entsteht „aus den Schranken und Widersprüchen des bloß verstandesmäßigen Denkens“ (Zerstörung, S. 86), er nutzt die „dialektische Spannung zwischen der rationalen Begriffsbildung und ihrem Wirklichkeitsstoff“ (S. 86) aus. „Das Anstoßen an solche Schranken kann für das menschliche  Denken, wenn es darin ein zu lösendes Problem und, wie Hegel treffend feststellt, ‚Beginn und Spur der Vernünftigkeit’, d.h. einer höheren Erkenntnis erblickt, Ausgangspunkt der Weiterentwicklung des Denkens, der Dialektik werden. Der Irrationalismus dagegen (...) macht gerade an diesem Punkt halt, verabsolutiert das Problem, läßt die Schranken des verstandesmäßigen Erkennens zu Schranken der Erkenntnis überhaupt erstarren, ja mystifiziert das auf diese Weise künstlich unlösbar gemachte Problem zu einer ‚übervernünftigen’ Antwort. Das Gleichsetzen von Verstand und Erkenntnis von Schranken des Verstandes mit Schranken der Erkenntnis überhaupt, das Einsetzen der ‚Übervernünftigkeit’ (der Intuition usw.) dort, wo es möglich ist, zu einer vernünftigen Erkenntnis weiterzuschreiten – das sind die allgemeinsten Kennzeichen des philosophischen Irrationalismus.“ (Zerstörung, S. 86) 

 Soweit der Mensch also entscheidende Probleme seiner Produktion und Reproduktion klären will, muss er auf die Gemeinsamkeit der Bewusstseine dringen, die nur unter der Voraussetzung einer angenommenen „transzendentalen Einheit der Apperzeption“ (Kant) möglich ist. Da die empirischen Subjekte, in denen diese Einheit gedacht ist, zugleich aber auch individuelle Erfahrungen und Bewusstseinsformen entwickeln, haben sie die Möglichkeit, ihre individuellen Erfahrungen „für die ganze Menschheit“ (Schiller) zu objektivieren oder aber sich der Gemeinsamkeit der Bewusstseine zu verweigern und in der Irrratio befangen zu bleiben. Da die Einheit des Bewusstseins immer auch Zwang ist, ist nicht einzusehen, warum der Mensch sich nicht partiell von diesem Zwang entlasten soll, solange es nicht um seine Existenz geht, z.B. im Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen, des Spiels und der ästhetischen Produktionen usw.

 Die Regelung der Produktion und Reproduktion des menschlichen Lebens, die die Gemeinsamkeit der Bewusstsein erfordert, also durch Vernunft bestimmt werden sollte, bewegt sich aber unter den Bedingungen einer irrationalen Produktionsweise, der Anarchie der kapitalistischen Marktwirtschaft und dem automatischen Subjekt Kapital. Während die Naturwissenschaften rational gelehrt werden, stehen Prämien auf der Verschleierung ihrer sozialen Funktion wie überhaupt auf der Irratio von sozialen Theorien (siehe 1.2. und 3.4.).  Andererseits liegt es im Interesse der kapitalistischen Produktionsweise, die durch Produktion von Produktivität gekennzeichnet ist, das naturwissenschaftliche Denken in Gestalt der instrumentellen Vernunft treibhausmäßig zu züchten. Die Reduktion der Vernunft auf bloß instrumentelle schneidet eine rationale Diskussion über die Ziele der Entwicklung ab und treibt die Menschheit heute in eine planetare Katastrophe, die, wenn sie nicht durch einen atomaren Weltkrieg ausgelöscht wird, voraussehbar in einem ökologischen Desaster bestehen wird.

 Ein Propagieren irrationaler Theorien, Vorstellungen usw. entspricht den kurzfristigen Klasseninteressen der Hochvermögenden und gefährdet in der heutigen historischen Situation die Menschheit. Leben die Menschen unter den Bedingungen der Klassenherrschaft des Kapitals, so sind die Herrschenden daran interessiert das logische Denken der Beherrschten auf die Manipulation von Naturvorgängen zu beschränken. Dem Zwang der Unterdrückten auf der Seite der Naturbeherrschung korrespondiert die Entlastung in der Freizeit durch die Kulturindustrie.

 Eine Philosophie wie die Lotzes, die das gesellschaftlich Irrationale in seinen Zustand für uns belässt, indem sie die menschliche Vernunft in ihrer Leistung unsachlich abwertet, wird objektiv menschenfeindlich. Dass er die Rationalmachung des Irrationalen in den Naturwissenschaften befürwortet, im Bereich des Ökonomischen, Sozialen, Religiösen  und Psychischen aber den Irrationalismus frönt, ist nicht nur typisch für sein ideologisches Philosophieren, sondern prägt weite Teile der bürgerlichen Philosophie nach Hegel und setzt sich bis heute fort. Unter anderem mit Lotze  beginnt der Weg der Selbstzerstörung des Selbstbewusstseins der bürgerlichen Gesellschaft, die mit der Durchsetzung der kapitalistischen Produktionsweise einhergeht. Diese Selbstzerstörung der bürgerlichen Vernunft ist einerseits Verlust an möglicher theoretischer Durchdringung der gesellschaftlichen Verhältnisse, andererseits ein Mittel der Manipulation der Lohnabhängigen durch eine mehr und mehr parasitär werdende Intelligenz, die auf einen Zauberberg verbannt ist, von dem aus sie fasziniert und ohnmächtig den Untergang ihrer Gesellschaft zusieht.

 Da die Rede über irrationale Gegenstände nicht einsehbar ist, die Erkenntnis solcher Gegenstände aber behauptet wird, eignen sich diese irrationalen Behauptungen vorzüglich zur ideologischen Manipulation der Bewusstseine. Wenn das philosophische Denken an einem Punkt irrational ist, dann lässt sich daraus das eine wie sein Gegenteil ableiten. Für welche Konsequenz aus diesem irrationalen Punkt sich der Philosoph entscheidet, ist nicht mehr allein aus philosophischen Gründen zu erklären. Der nach innen gerichtete theoretische Wille des Philosophen, der keinen notwendigen Gang der Argumentation hinter sich weiß, wird auch durch außerphilosophische, soziale Gründe veranlasst zu seiner willkürlichen Konsequenz. Die gesellschaftlichen Verhältnisse brechen unbewusst oder bewusst in dem Denken ihre Bahn. Lotzes hauptsächlicher Erkenntnisgrund für sein „Weltbild“ ist das irrationale Gemüt und er konstruiert bewusst seine Philosophie nach den ideologischen Bedürfnissen seiner Zeit, so wie er sie sieht. Die gesellschaftlichen Verhältnisse, oder konkreter deren ideologische Bedürfnisse, sind der alles überschwemmende Strom seiner Philosophie, während die philosophische Argumentation, der er sich bedient, nur die eigentlich unpassende Form für seine „Weltanschauung“ ist.

 Lotzes Philosophie ist in diesem Sinn von Grund auf irrational. Er schreibt eine positive Ontologie, deren Gegenstände vom Denken unabhängig sein sollen, und gibt gleichzeitig zu, dies aus den Rechtfertigungsbedürfnissen der bürgerlichen Welt heraus, also als Interesse geleitete Konstruktion zu machen. Er redet über „wahrhaftes Sein“, das denkunabhängig sein soll, obwohl es nur in seinem Denken vorkommt. Auf diese Ontologie stülpt er eine positive Theologie, nach der Gott den Sinn der Welt bestimme, obwohl es nur Lotzes Sinn ist. Er gibt die irrationalen Stichworte vor, welche die bürgerliche Philosophie der nächsten hundert Jahre prägen. Sein irrationales Herangehen an die Probleme der Wissenschaft verdeutlicht noch einmal das folgende Zitat:

 „Nur der Inhalt dieser der Vernunft nun einmal nothwendigen (ontologischen, B.G.) Voraussetzungen, durch welche eben der Begriff des Wirklichen erst bestimmt wird, von dem die Frage sein soll, kann sie dann berechtigen, über ihr eigenes weiteres Verhältnis zu diesem ihren Gegenstande zu urtheilen, entweder die Unerkennbarkeit seiner concreten Natur zu behaupten oder auch, im Zusammenhange aller ihrer Gedanken, die völlige Gegenstandslosigkeit des von ihr erzeugten Begriffes der Dinge nachzuweisen, oder endlich an ihm mit einem Glauben, der dann weiteren Beweis weder bedarf noch zuläßt, in dem von ihr selbst bestimmten Sinne festzuhalten.“ (Metaphysik, S. 16)  Dass er sich für den Glauben entscheidet, ist bereits gezeigt worden. Zwischen Lotzes beweislosem „Glauben“ und Hitlers „Vorsehung“ steht nur die folgenlose Kenntnis der philosophischen Tradition.

 Wenn unter anderem mit Lotze die Zerstörung des vernünftigen Bewusstseins und Selbstbewusstseins der bürgerlichen Philosophie beginnt (vgl. Lukács: Zerstörung), so dass die Autonomie des bürgerlichen Geistes schwindet und ihre Träger immer mehr zu geistigen Funktionären der Verwertung des Werts werden, dem sie die wechselnden Legitimationsbedürfnisse befriedigen, dann fördern sie den Untergang dieser Verhältnisse – so oder so.

 Wie weit das Denken von Lotze hinter die aufklärerische Epoche der Philosophie zurückfällt, in der von ihr Wissenschaftlichkeit erwartet wurde, zeigt die (unvollständige) Gegenüberstellung der Denkweise von Kant und Lotze.

 

Kant        Lotze

 Vernunft als oberstes Gesetzgebungsvermögen

≠ Gefühl und Gewissen als oberstes

Legitimationsvermögen

 

Erkenntnistheorie als Vorstufe wahrer philosophischer Erkenntnis

≠ Ablehnung der erkenntnistheoretischen Reflexion mit dem Ergebnis theoretischer Subreptionen

 

systematische Argumentation           

≠ Eklektizismus und erzählendes Philosophieren unter dem Schein eines „Systems“

 

Rationalität

≠ Irrationalität

 

Prinzipiendenken

≠ Weltanschauung

 

wissenschaftliches Denken

≠ Ideologie

 

das Gemüt soll sich dem Verstand anpassen

≠ das Gemüt steht über dem Verstand

 

Gewissen als subjektiver Ort der praktischen Vernunft                                 

  Gewissen als irrationales unmittelbares Vermögen

 

Sinn ist in der Welt nur so viel, wie wir herstellen

≠ göttlicher Sinn als Rechtfertigung des falschen Bestehenden 

 

wahre Natur-Wissenschaft als Bedingung der Möglichkeit nicht-empirische Begriffe zu begründen

≠ Anerkennung der Naturwissenschaften, aber Aufstülpen eines irrationalen Überbaus

 

bürgerliches Denken mit objektiven Irrtümern

≠ bürgerliches Denken, das die theoretische  Konstruktion bewusst den ideologischen Bedürfnissen unterordnet

   Lukacs Bemerkung: „Das Sinken des philosophischen Niveaus ist also ein Wesenszeichen der Entwicklung des Irrationalismus.“, charakterisiert diese Gegenüberstellung treffend. Die Abwertung der Vernunft war gewiss nicht nur ein individuelles Problem von Lotzes Denken, sondern typisch für die Entwicklung des bürgerlichen Geistes im Verlauf des 19. Jahrhunderts, was immer an Einzelerkenntnissen gewonnen wurden. Das Verlangen nach Sinngebung, nach einem alles erklärenden „Weltbild“ und nach einem philosophisch begründeten Fundament dieses „Weltbildes“, dass die empirisch verfahrenden Einzelwissenschaften nicht leisten konnten, wird von Lotze derart bedient, dass er ob seiner Irrationalität den Prozess der Enttäuschung und Resignation durch die Wissenschaften, den er aufhalten will, eher noch beschleunigt und mit zu einem Zustand treibt, in dem die Gebildeten in Krisenzeiten selbst nach einem Führer verlangen, der ihr ideologisches Bedürfnis durch dezisionistische Surrogate und Ästhetisierung der Macht befriedigt.

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3.6.            Historische Bedingungen der Wertphilosophie

 Wenn man die Philosophie Lotzes verstehen will, kann man sie nicht nur immanent kritisieren, sondern man muss sie in ihrem historischen Kontext reflektieren. Kein Zweifel, Lotze reagiert auf die Probleme der Philosophie seiner Zeit, seine Denkfehler machen seine Philosophie noch nicht zur Ideologie, aber die Dominanz von Ideologemen in seiner praktischen Philosophie, die verbunden sind mit dem Irrationalismus seiner Ontologie und Logik, qualifiziert sein Denken insgesamt als ideologisch. Ein solches Denken verlangt geradezu nach seiner Einbettung in die Historie.

   

 Eine Barrikade der Kommune, Paris 1871.

  Die kapitalistische Gesellschaft, wie jede herrschaftlich verfasste, benötigt Ideologie, d.i. falsches Bewusstsein zur Herrschaftssicherung, das zumindest den wenig ans Denken Gewöhnten unmittelbar einsichtig erscheint. Die Differenz zwischen Vermögenden und minder Bemittelten, Führenden und Untertanen, herrschender Elite und Bevölkerung bedarf der Rechtfertigung. Es ist nicht unmittelbar einsichtig, warum einige riesige Ländereien ihr Eigentum nennen können, andere dagegen kaum ihre Wohnungsmiete bezahlen können. Es ist nicht unmittelbar einsichtig, warum jemand kraft seines Eigentumstitels andere dazu veranlassen kann, für ihn zu arbeiten und einen kostenlosen Mehrwert abzuliefern, während die Arbeitenden lediglich ein paar bescheidene Gebrauchsgüter für ihre Arbeit bekommen. Und es ist nicht unmittelbar einsichtig, warum Menschen für eine Nation, die diese Eigentumsdifferenzierung schützt, auch noch ihr Leben in den Kriegen dieser Nation aufs Spiel setzten sollen. Dass Menschen etwas gegen  ihre Interessen fördern, dazu bedarf es starker Bewusstseinsvernebler, eben Ideologeme. Die geistige Basis für die populären Ideologeme liefert ihnen bewusst seit dem 19. Jahrhundert, man kann sagen seit Lotze, die Philosophie und die anderen sogenannten Geisteswissenschaften.

 Lotzes Ethik geht von der allgemeinen Gültigkeit seiner „Werte“ aus. In diesem Anspruch stimmt er mit den Forderungen der bürgerlichen Moralphilosophie der Aufklärung und der klassischen deutschen Philosophie bis zu Hegel scheinbar überein. Bestand bei diesen Philosophen (etwas Helvetius, Diderot oder Kant) eine gewisse Berechtigung, auf allgemein gültiger Moral zu bestehen, weil sie von der Illusion ausgehen konnten, dass die entstehende bürgerliche Welt mit der Vernunft vereinbar sei, so dass diese Illusion zu einem riesigen Überschuss an Vernunfteinsichten führte, der das Bestehende transzendierte, so ist dies bei Lotze anders. Angesichts der Klassenkämpfe seiner Zeit: Pariser Kommune, Gründung sozialistischer Arbeiterparteien in Deutschland, Gewerkschaftskämpfe, Sozialistengesetz und den stetigen Wahlerfolgen der Sozialdemokratie trotz staatlicher Behinderung, muss eine allgemein gültige Moral, die beansprucht für die antagonistische Gegenwart zu gelten, zur Ideologie werden. Lukács schreibt dazu: „Die Ideologen des Kapitalismus sprechen zwar immer lauter von den Gesamtinteressen der Gesellschaft, von den allgemeinen Prinzipien des Fortschritts und des Humanismus, aber dieses Reden wird immer apologetischer, heuchlerischer, ist immer stärker gezwungen, die wirklichen Tatsachen des gesellschaftlichen Lebens und ihre immanenten Widersprüche zu verschweigen, zu verschmieren, verfälscht auszulegen. Insbesondere verschwindet die antagonistische Gegensätzlichkeit der Klasseninteressen von Bourgeoisie und Proletariat aus diesen Darlegungen, und zwar genau in dem Maße, als sie in der objektiven Wirklichkeit in den Mittelpunkt des gesellschaftlichen Geschehens rückt.“ (Zerstörung, S. 311)

 Es ist dann kein Wunder, wenn ein subjektiv ehrlicher, genialer Philosoph wie Nietzsche dieser Heuchelei eine dezidierte Klassenmoral entgegenstellt, in welcher der Herrenmensch über die Sklavenherde mit aller Brutalität triumphieren soll. Die heutige Konjunktur des Wertbegriffs, der sich als allgemeiner gibt, zeigt jedoch, dass sich die herrschende Klasse die Offenheit Nietzsches nicht durchgängig leisten kann.

 War bis zum 18. Jahrhundert die Wissenschaft an die Autorität der Staatsgewalt nach dem Motto cuius regio, eius religio gebunden, die zwischen Zensur und Toleranz pendelte, so forderten wachsender Handel und expandierende Industrie im 19. Jahrhundert die „Freiheit der Wissenschaft“ zusammen mit den anderen bürgerlichen Freiheiten. Zum einen sollten mehr begabte junge Menschen studieren dürfen, um die Bedürfnisse der Industrie und der Verwaltung nach Akademikern zu befriedigen. Zum anderen konnte man die Wissenschaft nicht über Gebühr gängeln, wenn man wahre Resultate haben wollte. Das humboldtsche Modell der Universität wurde zum Vorbild in Europa. Der Staat bezahlt zwar die Professoren, so dass auch weniger Bemittelte Wissenschaft (und Lehre) betreiben konnten, zugleich genießen diese Wissenschaftsfreiheit, um evtl. nicht genehme Wahrheiten produzieren zu können. Dass dieser Übergang vom Mäzenatentum zur Freiheit der Wissenschaft nicht ohne Konflikte ablief, zeigt z.B. der Fall der Göttinger Sieben (oder in der BRD die Entlassung Peter Brückners in den 70er Jahren).

 Die Freiheit der Wissenschaft ist aber in der sich durchsetzenden kapitalistischen Gesellschaft ambivalent. Sie ermöglicht es, die Resultate seines Denkens frei zu äußern, zugleich stehen die Wissenschaftler in Konkurrenz um die Lehrstühle, die dazu zwingt, mit originellen Ideen zu glänzen, unabhängig von ihrem Wahrheitsgehalt. Der offiziell geförderte Wissenschafts- und Forschungspluralismus hat zur Folge, dass fast jeder Wissenschaftler besonders in den sogenannten Geisteswissenschaften seine Privattheorie entwickelt, ohne sie auf Stimmigkeit prüfen zu müssen. Friedrich Engels beobachtete z.B. 1878: „Seit einiger Zeit schießen in Deutschland die Systeme der Kosmologie, der Naturphilosophie überhaupt, der Politik, der Ökonomie usw. über Nacht zu Dutzenden auf wie die Pilze. (...) Freiheit der Wissenshaft heißt, daß man über alles schreibt, was man nicht gelernt hat, und dies für die einzige streng wissenschaftliche Methode ausgibt.“ (Anti-Dühring, S. 6)  Den subjektiven Grund für irrationale Philosophien sieht Engels in dem vom obrigkeitlichen Staat geförderten Kriechertum. Mit der klassischen Philosophie ist „der alte theoretisch-rücksichtlose Geist erst recht verschwunden; gedankenloser Eklektizismus, ängstliche Rücksicht auf Karriere und Einkommen bis herab zum ordinärsten  Strebertum sind an seine Stelle getreten. Die offiziellen Vertreter dieser Wissenschaft sind die unverhüllten Ideologen der Bourgeoisie und des bestehenden Staats geworden – aber zu einer Zeit, wo beide im offnen Gegensatz stehn zu Arbeiterklasse.“ (Feuerbach, S. 306)

 Neben der oben dargestellten deutschen Misere kommt noch hinzu, dass die Entwicklung des deutschen Kapitalismus, das „Zur-Geltung-Gelangen seiner  elementaren Interessen“ bei den führenden Mächten in Deutschland auf Unverständnis stieß, als eine „Art Schicksalstragödie“ (Lukács) empfunden wurde, eine Empfindung, die im Bürgertum weit verbreitet war und auch Auslöser für den Antisemitismus wurde. In diesem Zusammenhang gehört auch die Proletarisierung weiter Teile des Kleinbürgertums. Diese Epoche, in der Lotze seine Philosophie entfaltete, war geradezu ein idealer Nährboden für das Entstehen irrationaler Denkrichtungen und Mythen. Dies erklärt auch, warum gerade in Deutschland der Irrationalismus bis in die Stammtische durchdrang und bei den Nazis schließlich weiter Teile der Politik bestimmte.

Unter anderem von den Wertphilosophen stellt Haug fest, dass sie sich 1933 den neuen Machthabern anbiederten. „Ob Nietzsche- oder Platonrezeption, ob Hegeldeutung oder Humanismusdiskussion, ob Phänomenologie oder Wertphilosophie, Ontologie oder Anthropologie: die unterschiedlichen Richtungen – natürlich nicht die gleich zu Beginn ausgeschaltete, unter den Philosophieprofessoren einzig durch Max Horkheimer vertretene marxistische – befleißigten sich, jede auf ihre Weise, den NS und seinen Führer als philosophische Tatsache zu artikulieren, ihm ihre spezifischen Traditionsmächte zuzuführen.“ (Philosophen, S. 7)  Doch der Irrationalismus war bereits, auch als Folge der bürgerlichen Philosophie, derart verwurzelt, dass die deutschen Faschisten keine „höhere Legitimation“ bedurften. „Indes hatte der NS keinen Platz für eine besondere philosophische Leitideologie. Erst recht war die Konkurrenz um die Position des philosophischen Chefideologen ein eitles Spiel, denn dies war eine Stelle, die im NS strukturell unbesetzt bleiben mußte. Auch Rosenberg wurde kaum ernst genommen. Nicht selten zog sich ein philosophischer Anbieter einigermaßen verbittert zurück – ins Seminar, wie der philosophische Führungsanwärter Heidegger (...).“ (Philosophen, S. 7)  Doch „die Kompetenzen werden nicht dispensiert, sondern über sie wird anders disponiert“ (A.a.O., S. 8), die Philosophen werden zur „weltanschaulichen Schulung“ herangezogen. So wird neben der Wertphilosophie auch der Begriff „Weltanschauung“, der u.a. auf Lotze zurückgeht, im Faschismus produktiv. Nach Stegmüller (Hauptströmungen, S. XLI) sieht es heute in der Philosophie so aus, dass die einzelnen Richtungen andere Positionen gar nicht mehr zur Kenntnis nehmen und schon gar nicht auf sie reagieren. Auch dies ist ein Prozess, der in der Zeit Lotzes begann. Was man bei Lotze z.B. daran sehen kann, dass er sich 1880, wenn er vom Sozialismus redet, auf Louis Blanc bezieht, dessen Wirkungszeit 30 Jahre zurückliegt, die sozialistischen Theoretiker seiner Zeit aber offensichtlich nicht kennt.

 Die Kritik am Pluralismus philosophischer Positionen ist kein Argument gegen die Wissenschaftsfreiheit, wie es Lenin aus seiner Kritik an der bürgerlichen Philosophie machte, wohl aber gegen gesellschaftsbedingte Prämien, die auf einzelne Theoreme oder philosophische Positionen gesetzt werden, letztlich ein Argument gegen die Konkurrenzgesellschaft selbst, die Interesse bedingt eine Pluralität von „Pseudowissenschaft“ und „höhern Blech“ (Engels) fördert. Die herrschende Politik sucht sich aus diesen pluralistischen Positionen die heraus, die jeweils ihrer Legitimation am besten dienen kann. In vorauseilender Spekulation richten sich die Wissenschaftler bereits in ihrer „Forschung“ und „Denkarbeit“ nach diesem ideologischen Bedürfnis und produzieren so Ideologeme, von denen sie erwarten, den Herrschenden nützlich und damit ihrer Karriere fördernd zu sein. Das muss nicht ausschließen, dass man scheinbar auf philosophische Probleme reagiert oder heute die Werke Hegels in sein Literaturverzeichnis aufnimmt, obwohl man ihn für einen toten Hund hält. Lotzes Philosophie hat diese ideologische Fixiertheit als eine der ersten exemplarisch vorgeführt. Im naiven Selbstbewusstsein gesteht er dies offen zu. Als Belohnung für seine affirmative Philosophie erhielt er einen Ruf an die Berliner Universität, der damals bedeutendsten Lehranstalt, den er aber nicht mehr lange ausführen konnte, da er kurz darauf starb. Da aber philosophische Ideologeme und Irrationalismen sich schnell abnutzen, werden sie durch neue originellere Rechtfertigungen ersetzt. Das wäre im zweiten Teil der Arbeit über den Wertbegriff zu zeigen.

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3.7.            Die Wirkung Lotzes auf die nachfolgende bürgerliche Philosophie

 In diesem Kapitel kann es nicht um einen detaillierten Nachweis von Lotzes Wirkung geben. Worauf es hier ankommt, ist die objektiven Wirkungen Lotzes im Zusammenhang mit den Hauptströmungen der bürgerlichen Philosophie und dem vorherrschenden bürgerlicher Bewusstsein anzudeuten. Lotze ist als der große Anreger der nachfolgenden Richtungen zu zeigen, selbst wenn diese sich von seiner Philosophie distanzieren.

 Die Grundhaltung Lotzes, sich als Ideologieproduzent zu verstehen, haben seine Nachfolger in der bürgerlichen Philosophie, wenn sie sich nicht nur mit Formalismen beschäftigten, übernommen. So lobt das Vorwort in der Ausgabe des „Mikrokosmos“ von 1923 diese Vorbildfunktion von Lotze. „Auch ist das Wertvolle und Fruchtbare seiner Anregungen sicher  und unverlierbar in die Struktur unseres modernen Geisteslebens eingegangen – es sind wenige unter den modernen philosophischen Richtungen, die sich nicht irgendwie auf Lotze als auf ihren Wegbereiter berufen könnten – so daß es eines ‚Zurück zu Lotze’ gar nicht bedarf. Diese Neuausgabe soll vielmehr als ein Akt der Pietät gegen den großen Anreger Lotze gewertet werden.“ (Mikrokosmos, S. VII)

 Die Philosophie war in ihrer Geschichte immer auch das Selbstbewusstsein ihrer Zeit. Noch in den sublimsten Argumentationen war die jeweilige Gesellschaftsordnung präsent, etwa im Universalienstreit des Mittelalters, in dem es nicht nur um Sprachtheorie ging, sondern immer auch um die Rolle der allgemeinen Mächte Kirche und Feudaladel  und deren Verselbstständigung gegenüber den Individuen.

 Auch Lotzes Philosophie ist ein Index der Probleme des 19. Jahrhunderts. Seine Ontologisierung des Bestehenden bei gleichzeitiger Anerkennung der ständig wachsenden Resultate, welche die Naturwissenschaften hervorgebracht haben, reagiert auf die Verunsicherung der Herrschenden gegenüber den nicht schlichtbaren Konflikt zwischen Kapital und Arbeit, ohne den naturwissenschaftlichen Fortschritt zu behindern. Gerade der Widerspruch zwischen seiner Anerkennung der Rationalität der Naturwissenschaften und seiner irrationalen ontologischen und teleologischen Konstruktion, macht das Dilemma bürgerlichen Denkens in dieser Zeit deutlich. Es muss die naturwissenschaftliche Rationalität treibhausmäßig bis zum Äußersten steigern, um konkurrenzfähig zu sein, und zugleich verhindern, dass dieser hohe Anspruch ans rationale Denken auch auf gesellschaftliche Gegenstände angewandt wird. Die zur Zeit Lotzes einsetzende Trennung von Naturwissenschaft und „Geisteswissenschaft“, die mitten durch Lotzes Philosophie hindurch geht, hat in dieser ideologisch motivierten Aufspaltung des Denkens ihren Grund. Diese Anerkennung der wissenschaftlichen Resultate bei gleichzeitiger Abwertung des rationalen Denkens wird nicht nur von Dilthey, sondern später auch von Heidegger und Jaspers übernommen. Diese Schizophrenie des Geistes ist ein bleibender Grundzug spätbürgerlichen Philosophierens.

 

 Intellektuelle als geistige Brandstifter?

 Dilthey schreibt dazu: „Die Einzelwissenschaften besetzten allmählich das ganze Reich des Wirklichen in einem Verlauf, der in der neueren Zeit dann wieder einsetzte und auch heute noch nicht zum Abschluß gelangt ist. Wenn die Philosophie irgendeinen Kreis der Forschung der Reife entgegengeführt hatte, löst dieser sich ihrem Verbande. So ist es ihr zuerst mit den Naturwissenschaften gegangen (...) heute macht sich unter den Psychologen das Streben nach Emanzipation ihrer Wissenschaft geltend (...) Diese immerfort zunehmende Verschiebung in den Machtverhältnisse innerhalb des Bezirks des Wissens stellte gleichsam von außen der Philosophie die Aufgabe neuer Abgrenzungen ihres Gebiets.“ (Wesen, S. 16 f.)  Heraus kommt eine Aufspaltung wissenschaftlichen Denkens in die Naturwissenschaften, die Erfahrungen verallgemeinern und Gesetze erklären, und die Geisteswissenschaften, die Singularitäten verstehen.

 Die offen irrationalen Züge in der Philosophie Lotzes zeigen zugleich die Richtung der vorherrschenden geisteswissenschaftlichen Strömungen an: der Abfall von der aufklärerischen Tradition, mit der das Bürgertum sich einst von der geistigen Feudalmacht emanzipierte. Lotzes Denken ist Apologie der bürgerlichen Gesellschaft, die sich geistig bereits in der Defensive gegen die Kräfte, die sie selbst erzeugt hat, das Proletariat und seine Theoretiker, befindet. Wie jede Apologie zerstört sie zugleich das, was sie verteidigt. Das Aufkommen einer Vielheit von unterschiedlichen philosophischen Deutungen, die Engels bemerkte, macht den Verschleiß solcher Deutungen deutlich.

 Lotzes Philosophie hat dagegen sublimer gewirkt als diese Vielheit. Er hat etwa 40 Jahre lang einen Lehrstuhl für Philosophie inne gehabt und dadurch eine Unzahl von Generationen geprägt.

Direkt ist aus dieser akademischen Tätigkeit über Windelband der Neukantianismus hervorgegangen. Durch seine „induktive Metaphysik“ hat er aber auch die Phänomenologie Husserls angeregt, seine Ontologie hat nach eigenem Bekunden Heidegger beeinflusst. Und seine Wertphilosophie hat ein Jahrhundert lang das ethische Denken der bürgerlichen Philosophie beherrscht und bestimmt heute die bürgerliche Politikerseele bis hin zu dem Unterrichtsfach „Werte und Normen“.

 Eine philosophische Rechtfertigung des Bestehenden macht nur Sinn, wenn sie einigermaßen rational ist, sonst könnte sie gleich emotionale Theologie oder Begriffsdichtung heißen. Wenn Philosophie nicht mehr rationales Selbstbewusstsein ihrer Zeit ist, dann verliert die Gesellschaft das Wissen um sich selbst. Sie wird blind – oder besser – die herrschenden Klassen werden blind für ihr Tun und ihre Stellung in der Welt. Lotze weiß das, deshalb treibt er das philosophische Denken bis zu dem Punkt, wo es schweigen müsste – und produziert dann seine irrationalen Setzungen (nicht ohne vorher den Begriff der Setzung kritisiert zu haben), die aber als offen irrationale das mögliche Selbstbewusstsein, das seiner Philosophie zu entnehmen ist, wieder desavouieren. Lotze begründet letztlich eine Tradition irrationalen Denkens, das als blindes bürgerliches Bewusstsein die verspätete Nation in den Weltkrieg begleitet und dann der Ideologie Hitlers übergibt. Zwar wird Lotzes teleologischer Idealismus von seinen Nachfolgern als unhaltbar kritisiert, aber nur, um an dessen Stelle einen scheinbar einleuchtenderen Irrationalismus in Gestalt der Lebensphilosophie zu setzen.

 So kritisiert Dilthey an Herbarts, Fechners und Lotzes Metaphysik: „Der Weg von der Mannigfaltigkeit des in der Erfahrung Gegebnen zu den Müttern aller Dinge, hindurch durch Begriffe, die durch keine Anschauung belegt werden können, führte sie in eine Nacht, in der Reale oder Monaden, Zeitliches oder Unzeitliches, ein allgemeines Bewußtsein so gut als ein Unbewußtes von ausdeutendem Tiefsinn gefunden werden mochten. Sie häuften Hypothesen, die in dem Unzulänglichen, Unerfahrbaren keinen festen Grund, aber auch keinen Widerstand fanden. Ein Hypothesenkomplex war hier ebenso möglich als der andere. Wie hätte diese Metaphysik die Aufgabe erfüllen können, in den großen Krisen des Jahrhunderts dem Leben des Einzelnen und der Gesellschaft Sicherheit und Festigkeit zu geben!“ (Wesen, S. 23)  Charakteristisch setzt Dilthey gegen den treffend kritisierten irrationalen „Hypothesenkomplex“ Lotzes seinen nur scheinbar rationaleren Begriff des „Lebens“, der sich aber ebenso in der Gestalt seiner Lebensphilosophie als unreflektierter, unbestimmbarer und damit irrationaler  „Hypothesenkomplex“ erweist.

 Über die Philosophie sagt Dilthey: „Im Unterschied von den Einzelwissenschaften sucht sie die Auflösung des Welt- und Lebensrätsels selbst. Im Unterschied von Kunst und Religion will sie die Lösung in allgemeingültiger Weise geben.“ (Wesen, S. 33)  Doch statt „in allgemeingültiger Weise“ wird ein unbestimmbarer Begriff des Lebens zur Grundlage des Denkens, der auch für eine primitivere Ideologie brauchbar ist. „Diese Verhaltensweise, in der wir das Erlebte und Gegebene auffassen, erzeugt unser Weltbild, unsere Begriffe von Wirklichkeit, die Einzelwissenschaften, an welche die Erkenntnis dieser Wirklichkeit sich verteilt – sonach den Zweckzusammenhang der Wirklichkeitserkenntnis. – An jeder Stelle dieses Vorgangs wirken Trieb und Gefühl. In diesen ist der Mittelpunkt unserer seelischen Struktur; alle Tiefen unseres Wesens werden von da aus bewegt. Wir suchen eine Lage unseres Lebensgefühls, welche auf irgendeine Art unsere Wünsche schweigen macht. Leben befindet sich in der beständigen Annäherung an dieses Ziel: bald scheint es dasselbe ergriffen zu haben, bald entfernt es sich wieder von ihm. Nur die fortschreitenden Erfahrungen lehren jeden einzelnen, worin für ihn das dauernd Wertvolle besteht. Die Hauptarbeit des Lebens ist nach dieser Seite, durch Illusionen hindurch zu der Erkenntnis dessen zu kommen, was wahrhaft wertvoll ist.“ (Wesen, S. 43, Hervorhebungen von mir)   

 Ein solches Geschwafel könnte auch Lotze geschrieben haben. Auch wenn Dilthey sich nicht direkt auf Lotze bezieht, kann diese Auffassung doch ihre Herkunft von Lotze nicht verleugnen. Das betrifft nicht nur die Übernahme des Wertbegriffs, sondern vor allem den des Lebens. Lotze ist ein Vorläufer, wenn nicht gar der Mitbegründer der Lebensphilosophie, auch wenn sein Begriff des Lebens noch nicht offen den Rang des Totalitätsbegriffs „Leben“ hat wie bei Dilthey, aus dem diese Richtung alles erklären will. Stattdessen scheint der höchste Punkt der „lebendige Gott“ oder „Urgrund“ zu sein, der den ontologischen Zusammenhang aller Dinge konstituiert. Das Besondere von Lotzes „Lebensphilosophie“ ist, dass er die ganze Welt in einem lebendigen Gott fundiert, aus dem der Zweck des Lebens fließen soll und der alle mechanischen und organischen Bewegungen auf diesen Zweck – der uns allerdings nicht völlig bekannt ist – hinorientiert. (Dieser Gedanke wirkt weniger in der bürgerlichen Philosophie als bei den kirchlichen Ideologen fort.)

 Aber diese Konstruktion ist selbst nur eine, die aus den Bedürfnissen des Lebens seiner Zeit folgt. Lotze will die „Noth des Lebens“ beheben, sein teleologischer Idealismus ist ihm ein Bedürfnis des lebendigen Gemüts und so in seinem Begriff des Lebens bzw. seinem ideologischen Bedürfnis fundiert. Lotze veröffentlichte seine Bände des „Mikrokosmos“ (1856-64) vor Diltheys Hauptwerk „Einleitung in die Geisteswissenschaften“ (1883) und Bergsons ersten Schriften (1889). Wenn es das Gemeinsame der verschiedenen Strömungen der Lebensphilosophie ist, dass Leben ein kultureller Kampfbegriff und eine Parole wird, dass „Leben“ immer schon den Geist, das individuelle Bewusstsein und die Kultur Tragende, dem Wissen und der Vernunft vorgeordnete ist und damit das Irrationale dieses Begriffs positiv aufgewertet wird, während Verstand und Vernunft abgewertet werden (vgl. Schnädelbach: Philosophie, S. 172-196), dann ist Lotze auch Lebensphilosoph. So macht nach Schnädelbach Lebensphilosophie „das Leben zum Prinzip. Sie ist nicht (...) nur als Philosophie des Organischen, sondern sie ist eine philosophische Position, die etwas, was wesentlich im Gegensatz zu Rationalität, Vernunft, Begriff oder Idee steht, zur Grundlage und zum Maßstab von allem macht: Leben als etwas Irrationales. Man kann darum die Lebensphilosophie als Metaphysik des Irrationalen und so in einem wertfreien Sinne als Irrationalismus bezeichnen.“ (Schnädelbach: Philosophie, S. 174)  Diese „wertfreie“ Darstellung ist eine exakte Beschreibung, die auch Lotzes Denken darstellend umfasst. Bei ihm ist der grundlegende Lebensbegriff das „Gemüt“. Er beklagt „die zersetzende und zerstörende Tätigkeit dieser Forschung, d.h. den Geiste der mechanischen Naturforschung“.  Denn „vieles von diesem inneren Leben des gläubigen Gemüts wird stets subjektives Erlebnis bleiben müssen, und keineswegs wird in diesen unsagbaren Zuständen nur das minder Wertvolle des Glaubens liegen; das Beste, Schönste und Fruchtbarste vielmehr, das wir erfahren können, wird allezeit den Formen der Erkenntnis überlegen, nur in Gestalt dieser lebendigen Erregung in uns wirklich sein.“ (Mikrokosmos III, S. 549)

 Gegen die Konsequenz, Lotzes Philosophie sei bereits Lebensphilosophie, wendet sich Schnädelbach: “Der Wertaspekt kommt also dadurch in Lotzes Metaphysik herein, daß er mit der gesamten platonisch-aristotelischen Tradition am ens et bonum convertuntur festhält. In der psychologisierenden Redeweise Lotzes, die sich in seinem Artikel ‚Seele und Seelenleben’ (1846) noch verstärkt, wird daraus die Erweiterung des ‚geistigen Lebens’ um emotive, voluntative und wertende Elemente und Aktivitäten. An diesen umfassenden Geistbegriff konnte dann Diltheys Lebensphilosophie anknüpfen. Lotze bleibt aber diesseits der Lebensphilosophie, weil er nicht zu einer Metaphysik des Irrationalen übergeht. Zugleich bleibt er Metaphysiker, weil er sich weigert, die Rede von der im Geiste vorhandenen Wahrheit bloß erkenntnistheoretisch zu verstehen; für ihn ist die Erkenntnis selbst ein Seinsverhältnis, das es zunächst metaphysisch aufzuklären gilt.“ (Philosophie, S. 210 f.)   Diese Deutung der Lotzeschen Philosophie beruht auf willkürlichen Festlegungen, was Lebensphilosophie und Irrationalismus ist. Wenn Schnädelbach als Hauptkriterium für die Lebensphilosophie die Tatsache ansieht, sie basiere auf einem Begriff des Lebens, der zum Totalitätsbegriff geworden ist und nicht mehr rational verstehbar, sondern allem Denken vorgeordnet ist, aus dem aber gleichwohl Erkenntnisse abgeleitet werden könnten (vgl. Philosophie, S. 180 u. S. 182), dann hat er einen solchen Begriff in Lotzes „Gemüt“ vor sich. Dass Lotze Metaphysiker bleibe und ein ganzes Gedankengebäude errichte, ist kein Widerspruch zur Lebensphilosophie, wenn man die Basis dieses Systems im Gemüt bedenkt, das eben nur scheinbar metaphysisch ist, sondern tatsächlich die konservativen bürgerlichen Bedürfnisse seiner Zeit artikuliert, dem von Schnädelbach selbst konstatierten Bedürfnis nach Sinn ausdrückt. Das unreflektierte und darum unverstandene Leben der kapitalistischen Gesellschaft ist immer schon Grund und Ziel der Lotzeschen Philosophie wie der Lebensphilosophie nach ihm. Selbst wenn man Schnädelbachs engeren Begriff der Lebensphilosophie akzeptiert, so ist doch die Aussage,  dass seine Philosophie kein Irrationalismus wäre, falsch. Diese Aussage ist nur aus Schnädelbachs eigenen irrationalen, um nicht mit Lukács zu sagen bürgerlichen Schranken zu erklären.

 Lotze kritisiert die „Vergötterung der Wahrheit“, die durch Verstand und Vernunft gewonnen wurde, weil sie das „richtige Verhältnis zwischen Gemüt und Erkennen“ in eine unwahre Stellung zu verschieben droht, so dass unsere „Wünsche, Träume und Hoffnungen“ nicht mehr berücksichtigt werden und alles beleidigt wird, „was das lebendige Gemüt außerhalb der Wissenschaft für unantastbar achtet“ (Mikrokosmos I, S. XXVII). Trotz seiner Anerkennung der naturwissenschaftlichen Resultate, ist ihm dennoch „die Weltansicht des Gemüts“ eine höhere Auffassung der Dinge als die rationale Wissenschaft. Was soll sonst Irrationalismus sein, wenn nicht das Gedankengebäude Lotzes, das auf dem Gemüt basiert?

 Georg Lukács hat die Lebensphilosophie als direkten Vorläufer und Wegbereiter der faschistischen Ideologie bezeichnet. Wegen dieses pauschalen Urteils wurde er heftig kritisiert (so von Schnädelbach: Philosophie, S. 173 f.): das treffe zwar auf Spenglers „Untergang des Abendlandes“ zu, nicht aber etwa auf Freuds Aufsatz „Über das Unbehagen in der Kultur“, der ebenfalls auf Motiven der Lebensphilosophie beruht. So notwendig auch solche Differenzierungen sind, so bleibt doch das Argument von Lukács bestehen, dass die Lebensphilosophie aller Varianten zum Trotz ein Klima des Irrationalismus schuf, auf den der Faschismus bauen konnte und der ihn begünstigte. Wenn das bürgerliche Denken auf irrationalen Totalitätsbegriffen wie dem des „Lebens“ beruht, dann sind auch solche Gedanken möglich: „Das Raubtier ist die höchste Form des freibeweglichen Lebens ... Es gibt dem Typus Mensch einen hohen Rang, daß er ein Raubtier ist.“ (Spengler, zitiert nach Schnädelbach: Philosohie, S. 190)  Die faschistische Ideologen brauchten hier bloß abzuschreiben.

 Lukács schreibt über den Zusammenhang von Lebensphilosophie, Irrationalismus und Faschismus: „Damit aber eine so wenig fundierte und kohärente, so zutiefst unwissenschaftliche, so grob dilettantische ‚Weltanschauung’ zur herrschenden werden konnte, war eine bestimmte philosophische Atmosphäre, ein Zersetzen des Vertrauens zu Verstand und Vernunft, eine Zerstörung des Glaubens an den Fortschritt, eine Leichtgläubigkeit gegenüber Irrationalismus, Mythos und Mystik vonnöten. Und eben diese philosophische Atmosphäre hat die Lebensphilosophie geschaffen.“ (Zerstörung, S. 362 f.)  Auch wenn es Lotze nicht bewusst war, welche Folgen sein philosophisches Denken haben könnte, und er zwar eine autoritäre, aber keine bonapartistische (faschistische) Herrschaft vertrat, so hat er doch an diesem irrationalen geistigen Klima, das die Ideologie des Faschismus hervorbrachte, nachweisbar mitgearbeitet.

 Lotze will die positivistischen Naturwissenschaften und ihr nihilistisches Selbstbewusstsein („Materialismus“) mit philosophischen Mitteln in ein Sinnsystem einfügen und arbeitet doch nur an der Zerstörung der Vernunft, die zum allgemeinen Nihilismus führt. Er will die Vernunftmoral, weil sie in der bürgerlichen Welt nicht von den Menschen gelebt werden kann, durch eine in den Subjekten fundierte Moral ersetzen; um aber dem Subjektivismus zu entgehen, verankert er sie wieder in einer steilen Ontologie und Theologie, was sie zwangsläufig irrational macht und deshalb unannehmbar für Nicht-Gläubige. Obwohl Lotze allgemeine Geltung für seine Werte beansprucht, sind sie doch so partikular wie seine Bedürfnisse, die seiner Konstruktion zu Grunde liegen. Er verallgemeinert seine Gemütsregungen – und was herauskommt ist eine unmittelbare Klassenphilosophie von Bürgertum und Adel. Er will Philosophie betreiben und stellt Ideologie her. Lotze kritisiert den avancierten Stand des Denkens, wie er in der Periode von Kant bis Hegel erreicht wurde, um Raum für seinen Irrationalismus zu schaffen, und gibt vor allem mit seiner Wertlehre das Stichwort für die folgende bürgerliche Philosophie, die zur Zerstörung der Vernunft führt, so dass der deutsche Faschismus geistig ungebremst mit seiner kruden Ideologie daran anknüpfen kann.

 Dies ist der philosophische Hintergrund, der zum heutigen Wertgeraune und zum Schulfach „Werte und Normen“ geführt hat. Abwertung von Vernunft und Wahrheit und irrationale Fundierung des Denkens, Befriedigung ideologischer Bedürfnisse statt autonomes Denken, künstliche Restitution religiösen Denkens und dogmatische Apologie des falschen Bestehenden gehören heute zum weltanschaulichen Mainstream der kapitalistischen Gesellschaft. Er hat sich bei allem Wandel von Terminologien und Modetheorien als Kontinuität erwiesen. Lotzes Anteil daran hat diese Arbeit herauszuarbeiten versucht.

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Stand: 31. Mai 2005